Ein Verkehrsrätsel

Irrtümer und Fehlurteile im täglichen Denken. Schnell kann man in die Verlegenheit kommen, auf eine Zeugenaussage angewiesen zu sein. Wie zuverlässig sind Zeugen? Können wir uns auf deren und unser Gedächtnis verlassen?

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Wie schlecht wir uns auf unser Gedächtnis verlassen können, hat Stefanie Kara schon 2015 in dem Artikel "Fragile Spuren" dargelegt. Julia Shaw hat ein gut verständliches Buch "Das trügerische Gedächtnis" darüber geschrieben. Doch darum soll es in der folgenden Geschichte nicht gehen. Hans-Peter Beck-Bornholt und Hans-Hermann Dubben haben sich den folgenden Fall für ihr lesenswertes Buch "Der Schein der Weisen" ausgedacht.

Ein Mann sieht blau

Zwei unabhängige Informationen über ein Ereignis werden quantitativ miteinander verknüpft - mit überraschendem Ergebnis.

Irrtümer haben ihren Wert; jedoch nur hie und da.

Nicht jeder, der nach Indien fährt, entdeckt Amerika.

Erich Kästner

Während sich Doktor Thomas Vielgut irgendwo zwischen dem internationalen Flughafen Syldaviens und der Hauptstadt Syldenna in einem Taxi auf seinen bevorstehenden Urlaub freut, freut sich der erfolgreiche Taxiunternehmer Imma Forfaat auf der Terrasse seines Wochenenddomizils über die neuesten Entwicklungen in seiner Firma. Alle seine Taxis sind grün, und durch Erweiterung seines Wagenparks hat er jetzt 25 Fahrzeuge in der Hauptstadt. Seine einzige Konkurrenz sind »Die Blauen«. Deren Eigentümerin, die ehrgeizige Zufa Lässig, sitzt ebenfalls auf ihrer Terrasse und freut sich nicht. Sie hat nur fünf Taxis. Ihr Marktanteil beträgt damit 5/30 ** 0,17 oder 17 Prozent.

Vielgut verlässt sein Hotel, um sich ein wenig die Füße zu vertreten. Es ist schon dunkel. Die laue Abendluft und der Vollmond laden ein zum ... es kracht! Vielgut fährt herum und sieht, wie ein blaues Taxi mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen in der Dunkelheit verschwindet. Er geht zur Unfallstelle. Das Taxi hat ein parkendes Auto gerammt, aber es ist niemand verletzt. Der Polizei gibt Vielgut später gewissenhaft zu Protokoll, was er beobachtet hat.

In Syldenna gibt es so viele Hinterhofwerkstätten und Autobastler, dass die Polizei gar nicht erst versucht, den Fahrer des Taxis ausfindig zu machen, und aufgrund von Vielguts Zeugenaussage ist ja sowieso klar: Als Besitzerin der blauen Taxis muss Zufa Lässig für den Schaden aufkommen. Bereits am frühen Morgen nach dem Unfall wird sie zur Schadensregulierung verurteilt - die syldavische Justiz ist schnell und rigoros.

Als Taxiunternehmerin ist Zufa Lässig Gegenwind gewöhnt und geht in die Berufung. Der Schuldspruch basiere ausschließlich auf der Aussage dieses Touristen, argumentiert ihre Anwältin Vera Priori und ergeht sich in Mutmaßungen darüber, wie verlässlich dieser wohl in der Dunkelheit blau und grün unterscheiden könne. Zwar hätten auch andere Zeugen an den leuchtenden gelben Schildern eindeutig ein Taxi erkannt, aber über die Farbe des Wagens habe sich keiner geäußert. Und da 83 Prozent der Taxis nun mal grün seien (25/30 = 0,83), könne man doch wohl mit einer viel größeren Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass das Taxi grün gewesen sei, der Zeuge sich also geirrt habe und somit Imma Forfaat für den Schaden aufkommen müsse.

Vielgut wird daraufhin an der Weiterreise gehindert und zum Lokaltermin gebeten. Vor dem Hotel bei Dunkelheit und imitiertem Vollmond soll er die Farbe schnell davonfahrender Taxis benennen. Des Doktors Trefferquote beträgt 80 Prozent - für beide Farben. Nur in jedem fünften Fall irrt er sich. Um das Ganze so einfach wie möglich zu halten, nehmen wir hier an, »irren« bedeute immer, dass er die andere Farbe angegeben hat. Außerdem setzen wir voraus, dass er nie unentschieden war. Abwegiger Gedanke? Keineswegs, Doktor Vielgut ist Chirurg! Das ganze Theater kostet Vielgut zwei Urlaubstage, aber es ist für ihn und alle Schaulustigen ein großer Spaß. Der syldavische Fremdenverkehrsminister überlegt jetzt, ob er von nun an jedes Jahr einen solchen Sehtest veranstalten sollte. Auch der Richter ist ganz froh. Er sieht sein Urteil bestätigt und hätte Zufa Lässig erneut zur Schadensregulierung verurteilt, wäre da nicht Vera Priori. (Ende)

Wie würden Sie an Stelle des Richters entscheiden?

Ergänzung der Lösung:

Unsere Aufgabe mit den Taxis ist nicht intuitiv erfassbar. Es geht hierbei nicht nur um Wahrscheinlichkeiten, sondern um bedingte Wahrscheinlichkeiten. Es gibt nicht viele Menschen, die davon in ihrem Leben hören und noch weniger, die das wirklich verstehen. Thomas Bayes hat sein Theorem schon 1701 formuliert, aber bis heute werden Studenten mit folgendem Satz abgeschreckt: "Das Bayes-Theorem gibt an, wie man die a-priori-Wahrscheinlichkeit einer Hypothese mit den bedingten Wahrscheinlichkeiten für eingetretene Ereignisse kombinieren muß, um die a-posteriori-Wahrscheinlichkeit einer Hypothese zu bestimmen." Wer sollte da nicht "Bahnhof" verstehen?

Es sieht doch so einfach aus. Dr. Vielgut sieht in 80 % der Fälle die richtige Farbe 'grün'. Was dabei vergessen wird, ist die Ergänzung "wenn das Taxi wirklich 'grün' ist". Nun sind aber nicht alle Autos grün, sondern wir brauchen das Ergebnis für den Satz: "In wie vielen Fällen sieht Dr. Vielgut ein grünes Taxi, wenn nur 17 % der Taxis grün sind." Der letzte Satzteil stellt die Bedingung dar.

Auch diese Aufgabe hat sehr praktische Auswirkungen. Jeder von uns hat sie in den letzten Jahren zu spüren bekommen. Bei jedem Covid-Test standen und stehen wir vor dem gleichen Problem. Der Test erkennt das Vorhandensein einer bestimmten Gensequenz mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit (Sensitivität), wenn diese Sequenz wirklich in der Probe vorhanden ist. Er schließt aber auch nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit aus, dass diese Sequenz nicht vorhanden ist (Spezifität), wenn sie wirklich nicht in der Probe enthalten ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein positiver Test wirklich das Vorhandensein der Gensequenz beweist, hängt aber nicht nur von diesen beiden Werten ab, sondern auch von der Prävalenz, also dem Anteil der Infizierten in der Bevölkerung. Diese veränderte sich in den letzten drei Jahren laufend und damit auch die Zuverlässigkeit der Tests. Dieses Phänomen ist den wenigsten Menschen geläufig. Ob unser Gesundheitsminister diesen Zusammenhang kennt?

Die Aussage unseres Zeugen Dr. Vielgut hat auf der beschriebenen Insel eine bestimmte Zuverlässigkeit, die der Richter ausrechnen müsste. Auf einer anderen Insel mit einem anderen Verhältnis von grünen zu blauen Taxis hat derselbe Zeuge eine andere Zuverlässigkeit. Zu dieser kontraintuitiven Erkenntnis muss man kommen, wenn man die Aufgabe lösen will. Die Formel von Bayes ist dazu geeignet, aber etwas sperrig. Prof. Gigerenzer und auch die Autoren der Aufgabe empfehlen deshalb die Nutzung von natürlichen Häufigkeiten. Versuchen Sie es einmal damit. Es gibt 30 Taxis. Davon sind 5 grün und 25 blau. Jetzt müssen Sie nur noch berechnen, wie viele der grünen Taxis der Zeuge als grün (80 % also 4) bzw. blau (20 % also 1) identifiziert und wie viele der blauen Taxis von ihm als blau (80 % also 20) bzw. grün (20 % also 5) erkannt werden. Dann brauchen Sie nur noch die blauen (4 + 5 = 9 )und die grünen (20 + 1 = 21) addieren. Die Irrtumswahrscheinlichkeiten betragen dann für grün 1/21 = 5 % und für blau 5/9 = 56%. Der Richter lässt sich überzeugen, sein Urteil abzuändern. Im Buch heißt es dazu:

"»Erstaunlich«, sinniert der Richter, »das ergibt eine völlig andere Perspektive für diesen Fall. Es sieht so einfach aus ... und trotzdem hab ich das Gefühl, Sie haben mir den Kopf... na, sagen wir mal... verknotet.«

»Ach ja, beim ersten Mal ist man noch sehr verunsichert, Herr Richter«, winkt Vera ab, »aber es ist tatsächlich nicht schwer. Lassen Sie sich Zeit. Rechnen Sie es in aller Ruhe nach.«

Der Richter entscheidet sich für eine Vertagung (er nutzt die Zeit zum Nachrechnen) und fällt danach ein salomonisches Urteil: Imma Forfaat muß 56 Prozent und Zufa Lässig 44 Prozent der Schadenssumme begleichen.

Zufa Lässig ist mit dem Urteil zufrieden. Immerhin hat sie eine erhebliche Summe gespart. Allerdings währt die Freude nicht lange, denn zu der Schadensumme kommt nun Veras Honorar hinzu."

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