Vom Zustand und der Aufgabe des Journalismus

Unsere Blase der Täuschung und Selbsttäuschung – so überschrieb Patrick Lawrence seinen Artikel vom 05.04.2022. Es lohnt sich, solche Texte von Zeit zu Zeit wieder zu lesen.

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Ursprünglich erschien der Beitrag auf Consortium News (The US Bubble of Pretend) und wurde auf Deutsch in den Zeitfragen veröffentlicht. Anlass war ein Artikel der NYT, in dem auf die Propaganda zu Beginn des Ukrainekrieges eingegangen wurde. In "Fact and Mythmaking Blend in Ukraine’s Information War" schreiben die Autoren im Teaser:

"Experten sagen, dass Geschichten wie das Gespenst von Kiew und die Schlangeninsel, die beide von zweifelhaftem Wahrheitsgehalt sind, Propaganda oder Moralverstärker sind, oder vielleicht beides."

Zu dem Artikel zitiert Lawrence einen Twitter-Nutzer:

"«Warum können wir die Leute nicht einfach an bestimmte Dinge glauben lassen?», wollte dieser nachdenkliche Mann oder diese Frau wissen. Was ist falsch daran, wenn man schöne Dinge denkt und glaubt, die nicht wahr sind, damit man sich besser fühlt?"

Etwas sarkastisch merkt er zum Artikel noch an:

"Dies war eine lapidare Entschuldigung für die vielen «Geschichten von fragwürdigem Wahrheitsgehalt», wie die «Times» es ausdrückte, die damals im Umlauf waren. Ich liebe die «Times» für ihre delikaten Formulierungen, wenn es darum geht, heikle Dinge zu beschreiben."

Wer erinnert sich noch an die Meldungen, die es damals von dem heldenhaften Piloten gab, der die russischen Flugzeuge reihenweise vom Himmel holte oder die Verteidiger des Felsens im Schwarzen Meer, die posthum von Selenskij ausgezeichnet wurden und sich als quicklebendig entpuppten?

Lawrence schreibt:

"Das Fehlen einer objektiven, prinzipientreuen Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine ist ein verkommener Zustand. Das einzige, was noch schlimmer ist, ist das Ausmaß, in dem dies für die meisten Amerikaner völlig in Ordnung ist."

Ist es nicht für die meisten unserer Mitbürger auch völlig in Ordnung, insbesondere, wenn man sich auf der richtigen Seite wähnen kann? Wo ist der skeptische Blick auf die Nachrichten? Wo ist der Wunsch nach wirklicher Aufklärung? Von den Medien werden Narrative implementiert, die wie beim Pawlowschen Reflex nur noch mit einem Wort abgerufen werden müssen. Lawrence nennt einige aus den Anfangszeiten des Krieges, deren Wahrheitsgehalt gar nicht mehr nachgeprüft wird und deren Untersuchung zur Feststellung und Verurteilung von Tätern gar nicht mehr gefordert wird, weil alles sowieso schon klar ist. Jeder kann selbst prüfen, was bei ihm aus dem Gedächtnis hervorkommt, wenn ihm die Begriffe "Geburtsklinik Mariupol", "Theater Mariupol" oder Butscha vorgelegt werden. Der einzige Artikel in jüngerer Zeit, in dem im Zusammenhang mit Butscha richtigerweise von mutmaßlichen Kriegsverbrechen geschrieben wird, stammt vom Thomas Fischer, der am 12.04.2024 die Kolumne "Israel und die Toten von Gaza" auf Spiegel.de veröffentlichte. Was für eine Verwahrlosung der Medienlandschaft, könnte man fragen.

Lawrence weist in seinem Artikel aber auf zwei Bücher hin, die schon über 50 Jahre alt sind. Auch diese kann man hin und wieder zur Hand nehmen. Das erste ist nach seinen Worten zu unrecht wenig beachtet. Daniel Boorstin schrieb im Buch «The Image: Or, What happened to the American Dream»:

"Ich beschreibe die Welt, die wir geschaffen haben, wie wir unseren Reichtum, unsere Bildung, unsere Technologie und unseren Fortschritt dazu benutzt haben, das Dickicht der Unwirklichkeit zu schaffen, das zwischen uns und den Tatsachen des Lebens steht… Die Aufgabe des Reporters ist es, einen Weg zu finden, diese Fäden der Unwirklichkeit zu einem Gewebe zu verweben, das der Leser nicht als völlig unwirklich erkennen wird."

Diese Sätze muss man erst einmal sacken lassen. Aber er steht mit dieser Analyse nicht allein. Hannah Arendt hat es in dem Buch "Lügen in der Politik" auf ganz ähnliche Weise beschrieben. In dem Text von Lawrence heißte es:

"Fakten sind zerbrechlich, schrieb Arendt, da sie für sich genommen keine Geschichte erzählen. Sie können so zusammengesetzt werden, dass sie das bedeuten, was man will. Das macht sie anfällig für die Manipulationen von Geschichtenerzählern."

Wo sind die Journalisten, die darin ab und zu blättern? Haben Faktenchecker schon einmal etwas von Hannah Arendt gehört?

Zum Schluss kommt Lawrence auf eine persönliche Erfahrung zu sprechen. 1969 studierte er als junger Mann in Paris. Damals verstand er die Aufregung nicht, die Marcel Ophüls’ Film «Das Haus nebenan» in Frankreich auslöste. Der Gesellschaft wurde der Spiegel vorgehalten, wie sie sich mehrheitlich während der deutschen Besatzung verhalten hatte. Die Diskussionen um den Film brachten die Blase zum platzen, in der sich die Franzosen bis dahin eingerichtet hatten. Lawrence schreibt dazu:

"Jetzt verstehe ich, was der junge Student vor langer Zeit nicht ganz begreifen konnte. Die Franzosen waren einfach nicht in der Lage, Ophüls’ unnachgiebige Entlarvung dessen, was sie gewesen waren, zu ertragen. Ophüls hatte die dauerhafte Blase der Täuschung durchbrochen, in der sie nach dem Sieg in Europa 1945 für 25 Jahre gelebt hatten.
Die Menschen können sehr lange in diesen Blasen leben. Die Unwirklichkeit in diesen Blasen kann sehr überzeugend sein. Die Franzosen sind schließlich aus ihrer Blase herausgekommen. Es war schmerzhaft, eine Zeit voller Ängste, aber sie hatten Glück, dass sie entkommen sind.
Werden wir unsere Zeit der Trauer und des Mitleids haben und aus unserer Blase herauskommen, weil es uns dann besser geht? Mögen wir eines Tages so gesegnet sein."

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