Die Hoffnung, dass in der Türkei ein Krieg zu Ende geht, der in 30 Jahren über 30.000 Menschenleben forderte und Millionen traumatisierte, ist nicht unbegründet. Aber sie bleibt vage. 1999 ist schon einmal ein Rückzug der PKK gescheitert. Deren Guerilla hat achtmal eine Waffenruhe ausgerufen, die von der türkischen Armee entweder ignoriert oder gebrochen wurde. Derartige Erfahrungen sind wenig dazu angetan, Premier Tayyip Erdogan zu vertrauen. Der Mangel an Zuversicht, der die ganz große Freude über einen möglichen Friedensprozess nicht aufkommen lässt, hat viel mit einer wortkargen Regierung in Ankara zu tun. Niemand weiß bislang, worin deren Entgegenkommen bestehen wird, wenn die wohlfeilen Gesten gegenüber der PKK erschöpft sind. Ohnehin ist der türkische Staat alles andere als ein geübter Verhandlungspartner. Entsprechend riskant für eine Verständigung mit den Kurden ist die Kakophonie in der Regierung und im Parlament. Man darf nicht vergessen, dass die Kontakte mit dem auf der Gefängnisinsel Imrali internierten Öcalan bisher über den Geheimdienst liefen und Regierungspolitiker dazu Stellung nahmen, ohne wirklich im Bilde zu sein. Die Partei, von der man sich in Europa gemeinhin wünscht, dass sie regiert – die laizistische, sozialdemokratisch angehauchte CHP von Kemal Kilicdaroglu – bleibt in der Defensive. Der Parteichef, selbst ein kurdischer Alevit, kann sich nicht gegen nationalistische Hardliner in seiner Partei durchsetzen, denen es als Sakrileg erscheint, eine Gleichstellung von Kurden und Türken zu billigen. Doch auch Ultras müssen zur Kenntnis nehmen, vor Herausforderungen zu stehen, die von der kurdischen Nachbarschaft ausgehen. Im Nordirak ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die kurdische Autonomie in einen kurdischen Staat übergeht. Und egal, wann und wie der syrische Bürgerkrieg ein Ende findet – die bereits etablierte Selbstverwaltung kurdischer Kommunen in Nordsyrien ist eine Tatsache und im kollektiven Bewusstsein eines Volkes verankert. Dieser Mut zur Emanzipation lässt die Kurden in Südostanatolien nicht unberührt. Was im Irak und in Syrien geschieht, kann sie nur darin bestärken, in der Türkei als Gleiche unter Gleichen leben zu wollen.
Veränderte Verfassung
Um eine neue Ära in der Beziehung zwischen Türken und Kurden zu markieren, ist dank Öcalan ein Riesenschritt getan. Um ihm gerecht zu werden, sollte sich der türkische Staat zu einer Gegenleistung aufraffen, die wirklich überzeugt.
Die Kurden fordern, dass in einer neuen Verfassung die Staatsbürgerschaft und die ethnische Struktur der türkischen Gesellschaft neu zu definieren. Das braucht Zeit und ist nicht a priori verhandelbar. Stattdessen Abdullah Öcalan nach fast 14 Jahren Haft auf freien Fuß zu setzen, wäre nicht nur eine Geste der Versöhnung, sondern der Vernunft.
Der PKK-Führer kann die kurdischen Kämpfer besser vom Sinn einer Waffenruhe überzeugen als jeder andere. Schließlich gibt es ein militantes Lager, das nicht einsehen wird, unter großen Opfern in eroberte Positionen gerade jetzt aufzugeben. Sicher wird auch Öcalan einen Friedensprozess nicht vor Rückschlägen bewahren, aber er könnte sie überwinden helfen, bevor wieder alles zu spät ist.
Gülcin Wilhelm ist Autorin des Buches Generation Koffer. Die Pendelkinder der Türkei
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