100. Geburtstag Er gründete den „Spiegel“, schrieb aber nie so typisch westdeutsch wie dieser: Am 5. November wäre Rudolf Augstein 100 Jahre geworden. Der Schriftsteller Gunnar Decker erinnert an einen Vordenker der Ost-Politik Egon Bahrs und Willy Brandts
Foto: Barbara Pflaum/picture alliance/brandstaetter images
Wäre Rudolf Augstein stets genauso gewesen wie die von ihm 1947 gegründete Zeitschrift, man bräuchte heute wohl nicht über ihn zu reden. Er war – zum Glück – meist ein bisschen anders und verbarg das auch nie. 1961 bekannte er: „Ich schäme mich manchmal krank, wenn ich mein Blatt in die Hand nehme.“ Daran, dass es „sein Blatt“ war, zweifelte er dennoch nicht. Augstein war ein Eigensinniger im Sinne von Hermann Hesse, ein Alleingeher, der nur einer Partei folgte: seiner eigenen.
Seine einzige politische Liaison – mit der FDP – erwies sich schnell als Irrtum, spätestens als er 1972 über die Landesliste NRW in den Bundestag gewählt wurde und diesen nach drei Monaten fluchtartig wieder verließ. Den
#223;. Den Spott der politischen und medialen Konkurrenz über den „Kurzzeitabgeordneten“ ertrug er stoisch. Die Welt schrieb hämisch von seiner „elitären Arroganz“, die endlich auf den Boden der Tatsachen aufgeschlagen sei, die Saarbrücker Zeitung befand: „Augstein wurde seinen Parteifreunden mehr lästig als nützlich.“Zyniker? Rudolf Augstein wäre nicht beleidigt gewesenDas traf seine Intention: er wollte anderen durchaus „lästig“ fallen, ihnen nicht „nützlich“ sein. Aber in der praktischen Politik funktionierte das nicht. Dort hatte man für den Intellektuellen, der immer auch aus einem geistigen Impuls agierte, keinen Platz. Den doppelten Boden seiner Rede empfand man hier nur als störend, seine bittere Ironie, gepaart mit Melancholie, als Angriff. Manche nannten ihn einen Zyniker – eine Kennzeichnung, die der philosophisch kundige Augstein (die antike Schule der Kyniker erschien ihm eine überaus respektable) nie als Beleidigung empfand, obwohl sie so gemeint war. Aber er wusste es eben besser, sprich: genauer in all der Widersprüchlichkeit, die den Dingen anhaftet. Und wer wollte angesichts dieser Welt nicht skeptisch sein? Augstein hatte nur geschliffen formulierte Überlegungen zu bieten, keine festen Überzeugungen, nicht einmal vorgetäuschte. Machtbewusst und arrogant war er sich doch jederzeit seiner fragilen Position als sterblicher Einzelner bewusst, also zu Zwischentönen und Zurückhaltung fähig. Hielt ihm jemand einen Irrtum vor, war er zu der sein Gegenüber verblüffenden Auskunft fähig, das könnte stimmen.Augstein war nie der glatte Karrierist, wie man ihn heute häufig an der Spitze großer Medienunternehmen findet, kein Manager oder Netzwerker: er blieb jederzeit sperrig, vielleicht sogar sich selbst mitunter unverständlich, ein Sandkorn im Getriebe der von ihm erfundenen Medienmaschine, deren Herausgeber er 55 Jahre lang, bis zu seinem Tode 2002, blieb. Ein Patriarch gewiss, aber einer, der das Prinzip „Teile und herrsche“ beherzigte. 1974 übertrug er die Hälfte der Eigentümeranteile an seine Mitarbeiter.Heute scheint es, als ob man beim Spiegel die Gründerfigur in ritueller Verehrung gleichzeitig hoch und seine Prinzipien von sich fern hält – froh, dass ein solch notorisch unabhängiger Geist nicht in die eigenen Ausrechenbarkeiten fährt wie der Blitz vom Himmel. Die Ostdeutschen sehen im Spiegel bis heute ein reines West-Magazin, das sie nicht versteht und das sie folglich nichts angeht. In Bezug auf Augstein zumindest kann man das für einen Irrtum halten.Diese Heuchelei des rheinischen KatholizismusNatürlich schöpft jeder aus seinen eigenen Erfahrungen. Der 1923 in Hannover geborene Sohn eines vormaligen Kamerafabrikanten und späteren Fotoladeninhabers, der in einem bürgerlich-katholischen Milieu aufwuchs, kam im Zweiten Weltkrieg als Kanonier an die Ostfront bei Woronesch, wurde verwundet, erhielt das Eiserne Kreuz (II. Klasse), wurde als Artilleriebeobachter Leutnant der Reserve. Wie auch der spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt oder Stern-Gründer Henri Nannen schöpfte er aus diesen Kriegserfahrungen. Härte, auch sich selbst gegenüber, prägte diese Generation. Mit Goethe war ihnen die Geschichte ein „Mischmasch von Irrtum und von Gewalt“. Gemeint hatte Goethe vor allem die Kirchengeschichte und Augstein hat diesen Spezialfall der Geschichte dann 1972 genauso beurteilt in seinem Buch Jesus Menschensohn, dessen Grundthese der „Großinquisitorlegende“ aus Dostojewskis Die Brüder Karamasow entspricht: Kehrte Jesus heute (in der Legende das Spanien des 16. Jahrhunderts) wieder, würde ihn die Kirche als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Ideen werden durch Institutionen in Ideologien verwandelt, wusste Augstein – und diese sind nach Marx immer falsches Bewusstsein. Sein Bruch mit der Kirche war folglich rigoros. An Kanzler Adenauer diagnostizierte er jene Heuchelei des rheinischen Katholizismus, die er selbst nicht ertrug.Gottfried Benn, nach seiner Reaktivierung als Militärarzt Mitte der 1930er in Hannover stationiert, fasste sein Bild vom Menschen in der goethehaften Formulierung zusammen: „Sich irren und doch seinem Innern weiter Glauben schenken müssen“. Die Pointe aber fügte er dann noch hinzu: „jenseits von Sieg und Niederlage“ beginne der Ruhm. Auf diese Art „Jenseits“ konnte sich Augstein einlassen, wie auf Benns Charakterisierung des Spiegel: „Revolverblatt, aber unterhaltlich“? Vielleicht sogar das.Denn ein Magazin, das seine Leser nicht unterhält, sondern bloß belehrt, hatte er nicht gewollt. Erst recht keine Parteipostille, die Botschaften verbreitet. „Sagen, was ist“, war sein Credo, im Großen wie im Kleinen. Aber dieses „was ist“ (Augstein war auch Heidegger-Kenner) galt es erst einmal herauszufinden. Da war Streit vorprogrammiert, sogar gewollt. Das angelsächsische Prinzip, gleichsam ein Nachrichtenmagazin von unten zu betreiben, ist das Gegenteil aller Hofberichterstattung. Es geht darum, den Einzelnen – auch den bloßen Betrüger oder den Intriganten der Macht – ins Zentrum der Geschichte(n) zu stellen.Am 4. Januar 1947 erscheint der erste „Spiegel“Das hatte er direkt nach Kriegsende als Redakteur bei der britisch lizenzierten Zeitschrift Die Woche gelernt, die sich das Time-Magazin aus den USA zum Vorbild nahm, aber wegen zu kritischer Berichterstattung über die Besatzungsmächte nach sechs Ausgaben eingestellt werden musste.Augstein erlangte die Lizenz für ein deutsches Nachrichten-Magazin, ernannte sich selbst zum Chefredakteur und Herausgeber und so erschien am 4. Januar 1947 die erste Ausgabe des Spiegel. Jeder ahnt zumindest, dass viel gelogen wird, besonders dort, wo es um viel Geld oder viel Macht geht. Der Spiegel lieferte die Beispiele. Und fand sie vor allem dort, wo man mit Pathos spricht, also bei den Repräsentanten des Staates. Fortan bemühte sich der Spiegel um Enthüllung des zuvor Verschleierten – heute nennt man diese Methode investigativ. Das gelang mal besser, mal schlechter – aber die Gerichtsprozesse, die die skrupellose Berichterstattung dem Spiegel einbrachten, erschufen seinen Nimbus der Unerschrockenheit.Als Erich Kuby – später Freitag-Autor und -Kolumnist – 1961 in der Fernsehsendung Kreuzverhör Augstein fragte, wo denn der „verbindliche Standort“ des Spiegel sei, konterte dieser, was das denn sein solle. Eine „Idee“ oder ein „System“ schlug Kuby vor. Nein, beides nicht, nur das Prinzip „tapferes Herz“.Kanzler Adenauer war der erste Lieblingsfeind der neuen Wochenzeitschrift. Das hatte ernste Hintergründe, denn Augstein sah in ihm Anfang der 50er-Jahre denjenigen, der maßgeblich die deutsche Einheit, die er doch selbst in Festreden ständig beschwor, zugunsten von übereilter Westbindung und Wiederbewaffnung aufgab, deutlicher: der die Ostdeutschen verriet. Niemand außer vielleicht noch Sebastian Haffner hat darüber so deutlich wie Augstein geschrieben.„Den Brüdern im Osten“Seinen Kommentar „Lebewohl den Brüdern im Osten“ vom 15. Januar 1952 unter dem Pseudonym Jens Daniel hielt Augstein immer für einen seiner wichtigsten Texte. Er attackiert damit den Gründungsmythos der Bundesrepublik, immer nach der deutschen Einheit gestrebt zu haben. Nein, so Augstein-Daniel, Adenauer prüfe nicht einmal das Angebot Moskaus: „Tatsächlich hat man nichts getan, um die Sowjets mit ihrem Angebot freier Wahlen beim Wort zu nehmen, dafür alles, um ihnen durch überstürzte Integration nach Westen ein weiteres Einlenken unmöglich zu machen.“ Sein Fazit zu Adenauer, dem man Unrecht tue, wenn man in ihm immer bloß den Kölner Oberbürgermeister sehe, denn er besitze „durchaus den Zug zu einem Oberhaupt einer katholischen autonomen Republik“: „Wenn das kein Separatismus ist, wenn sich hier nicht der größere Teil vom kleineren absondert, dann gibt es überhaupt keinen Separatismus.“ Die Leserbriefe von damals kann man im Onlinearchiv nachlesen, erstaunlich viele Bundestagsabgeordnete melden sich zu Wort. Einer schreibt, dieser Autor passe nicht zum sonst geschätzten Niveau des Spiegel: „Herr Daniel sollte von Ihnen möglichst in die Ecke gestellt werden.“ Aber es gibt auch viel Zustimmung.Manche sagen, das Beste am Spiegel sei sein Archiv. Anfang der 1960er waren dort bereits über 40 Mitarbeiter beschäftigt. 1962 rettete das Archiv den Spiegel (und seinen Gründer, der 104 Tage im Gefängnis saß), als man wegen des Beitrags „Bedingt abwehrbereit“ auf Betreiben von Verteidigungsminister Franz Joseph Strauß in der Redaktion wegen Landesverrats ermittelte. Wochenlang suchte die Staatsanwaltschaft nach belastenden Unterlagen, aber sie fand nichts. Denn diese waren im labyrinthischen Archiv, das einer von Umberto Eco erfundenen mittelalterlichen Klosterbibliothek glich, zu gut versteckt.Das „Sturmgeschütz der Demokratie“Mit der „Spiegel-Affäre“ hatte das Blatt sich den Ruf erworben, das „Gewissen“ der Nation (West) zu sein, martialisch gestimmte Naturen sprachen auch vom „Sturmgeschütz der Demokratie“.Mit Recht sah sich Augstein als Vordenker der SPD-Entspannungspolitik von Egon Bahr und Willy Brandt. Dass der Spiegel seinen Beitrag leistete, eine CDU/CSU-Regierung Barzel/Strauß zu verhindern, rechnete er sich als historisches Verdienst an. In der Russland-Frage sah er sich ganz auf der Linie so ungleicher Figuren wie Bismarck, Gustav Stresemann und Heinrich Mann. Sie alle wollten Deutschland in der Rolle eines Brückenbauers zwischen West- und Osteuropa. Augstein wusste, Deutschland kann sich schlechte Beziehungen zu Russland nicht leisten.Auch darum war ihm der Reformkommunist Michail Gorbatschow so nah (Gorbatschow schrieb 2002 einen Nachruf auf Augstein für den Spiegel). Beide waren eher Intellektuelle als Politiker. Augstein wusste nach seinem eigenen Fiasko als Politiker, dass auch bei Gorbatschow ein „klägliches Scheitern“ drohte. Am 21.10.1990 brachte er diese Befürchtung unter der Überschrift „Unantastbar, doch gefährdet“ in einen Kommentar. 1988 hatte er bereits ein launiges Interview mit Gorbatschow geführt, der sofort die Gesprächsdramaturgie durcheinanderbrachte, indem er rief: „Jetzt werde ich Sie interviewen. Ich ziehe den Dialog vor.“ Augstein gefiel dieser Mensch, der den Funktionär hinter sich gelassen hatte. Am liebsten hätten sie wohl nur über Literatur, Philosophie und Kunst gesprochen.Welche Romane Augstein und Gorbatschow lasenAugstein verwies auf Iwan Bunins Roman Das Dorf, in dem die fatale Hinterlassenschaft des Zarismus geschildert wird, und beruft sich auf Kants Zum ewigen Frieden, Hegel muss mit dem Ausspruch über die Deutschen herhalten: „Wir haben allerhand Rumor im Kopfe“. Was nichts daran ändere, dass auf dem Kopfe doch eine „Schlafmütze“ sitze.Gorbatschow wird erst in seinen Erinnerungen rückhaltlos bekennen, dass Michail Lermontows Ein Held unserer Zeit sein Lieblingsbuch sei – darin will die Hauptfigur nicht handeln, sondern der Held eines Romans werden. Wenn jemand diese romantische Hypostasierung verstanden hat, dann Rudolf Augstein.
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