Ein Abgrund zwischen Politik und Volk

Den Haag/Kiew In den Niederlanden kommt es am 6. April zu einem Referendum über das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine. Eine Umfrage lässt eine überwältigende Ablehnung erwarten.

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Der Hintergrund

Nachdem der damalige ukrainische Präsident Janukowitsch am 21. November 2013 öffentlich verkündet hatte, das mit der EU ausgehandelte Assoziierungsabkommen nicht unterzeichnen zu wollen, kam es in Kiew zu Protestdemonstrationen, die von der Fernsehstation des nachmaligen Präsidenten Poroschenko angeheizt und von westlichen Medien sowie westlichen Politikern unterstützt wurden. Nach einer von der Oppositionsseite am 18. Februar 2014 eingeleiteten Eskalation unterzeichneten am 21. Februar ukrainische Oppositionspolitiker ein von den Außenministern Frankreichs, Deutschlands und Polens garantiertes Abkommen mit Janukowitsch, das noch am selben Abend durch einen Kommandeur rechtsextremer Kräfte auf dem zentralen Platz Kiews, dem Maidan, zur Makulatur gemacht wurde, indem dieser einen Rücktritt Janukowitschs bis zum Mittag des 22. Februar verlangte und im Weigerungsfall einen bewaffneten Angriff auf den Präsidentenpalast ankündigte. Wir wissen heute aufgrund öffentlicher Äußerungen des militärischen Kommandeurs des Maidan, Andrij Parubij, dass dieses vertragsbrüchige Ultimatum im Einvernehmen mit dem Führungszirkel des Maidan erfolgte. Andrij Parubij wurde nach dem Umsturz durch den Interimspräsdienten Turtschinow zum Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates ernannt. Wir wissen zudem aus einer gut belegten Untersuchung des Politikwissenschaftlers Ivan Katchanovski (University of Ottawa, Kanada), dass in den Tagen vor dem 21. Februar 2014 von Parubij kontrollierte Maidan-Sicherheitskräfte unbewaffnete Demonstranten der eigenen Seite von hinten erschossen haben, um Janukowitsch zu diskreditieren.

Nach dem Umsturz spaltete Russland die Krim von der Ukraine ab, was dadurch erleichtert wurde, dass eine überwältigende Mehrheit der dortigen Bevölkerung lieber zu Russland als zur Ukraine gehören wollte. Russland gab auch Kräften im mehrheitlich russischsprachigen Donbass Rückendeckung, die sich nach dem Umsturz in der Opposition befanden und im April 2014 nach dem gleichen Muster wie die vormalige Maidan-Opposition öffentliche Gebäude besetzten. Darauf antwortete die durch den Putsch an die Macht gekommene neue Kiewer Regierung, mit der die EU schon am 21. März 2014 den politischen Teil des Assoziierungsabkommen unterzeichnet hatte, mit einem Bürgerkrieg.

Im Laufe dieses Bürgerkriegs wurde am 17. Juli 2014 das Verkehrsflugzeug MH-17 auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur abgeschossen. Die meisten Passagiere waren Niederländer. In den Tagen unmittelbar vor dem 17. Juli hatten das Büro des Präsidenten und der ukrainische Außenminister behauptet, zwei eigene Militärmaschinen seien in Höhen abgeschossen worden, die mit den Waffen der Donbass-Separatisten nicht erreichbar gewesen wären (offizieller Abschlussbericht des niederländischen Sicherheitsrats zum Abschuss von MH-17, Seite 185). Niederländische Geheimdienste ermittelten später, dass es sich dabei um Falschmeldungen handelte. Diese Geheimdiensterkenntnisse sind ebenfalls im offiziellen Berichts des niederländischen Sicherheitsrats (NSR) zum Abschuss von MH-17 dokumentiert (ebenda, Seite 239).

Nachdem am 7. August 2014 Andrij Parubij als Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats der Ukraine zurückgetreten war (zwei Wochen später entfernte Präsident Poroschenko ihn ganz aus diesem Gremium), unterzeichneten die Niederlande, Belgien, Australien und die Ukraine am 8. August ein Geheimabkommen über die strafrechtliche Untersuchung des MH-17-Absturzes durch ein Joint Investigation Team. Am 12. August 2014 erwähnte der Sprecher der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft, Juri Boitschenko, die Existenz dieses Abkommens und gab an, dass es einen Passus enthalte, nach dem Untersuchungsergebnisse nur mit Zustimmung aller Vertragspartner veröffentlicht werden dürften. Laut einem Artikel des führenden niederländischen Politmagazins Elsevier gab die niederländische Regierung die Existenz des Geheimabkommens zu, weigerte sich aber, Inhalte offen zu legen. Aus einer Anlage zum Untersuchungsbericht des NSR zum MH-17-Abschuss kann man auch entnehmen, dass die ukrainische Seite mit dieser Untersuchung nur minimal kooperiert hat. So hat sie keine ausreichende Erklärung über die Falschmeldungen bezüglich der zwei Abschüsse eigener Militärflugzeuge in den Tagen vor dem 17. Juli 2014 abgegeben und sie hat keinerlei primäre Radardaten aus dem Abschussgebiet vom 17. Juli geliefert.

Nach all dem gehen westliche Regierungen und die westlichen Mainstream-Medien offiziell weiter davon aus, dass der Abschuss von MH-17 den Donbass-Separatisten zuzuschreiben ist.

Das Referendum

Bereits am 27. Juni 2014 war der wirtschaftliche Teil des EU-Assoziierungsabkommens mit der Ukraine von Präsident Poroschenko unterzeichnet worden. Noch vor der Ratifizierung beider Teile durch das EU-Parlament wendete sich das Blatt im Bürgerkrieg. Die Kiewer Seite erlitt Ende August 2014 eine strategische Niederlage, nach der sie gezwungen war, das erste Minsker Abkommen zu unterzeichnen, in dem den Separatisten erhebliche Zugeständnisse gemacht wurden. Im zeitlichen Umfeld dieser Verhandlungen hatte sich die EU auch mit Russland geeinigt, das Inkrafttreten des wirtschaftlichen Teils des Abkommens bis zum 31. Dezember 2015 auszusetzen. Im Gegenzug führte Russland zunächst keine Zölle auf ukrainische Exporte nach Russland ein. Am 16. September 2014 ratifizierten das EU-Parlament und das Parlament der Ukraine das EU-Assoziierungsabkommen. In Kiew hatte Präsident Poroschenko diese Ratifizierung prozedural mit der Zustimmung des Parlaments zu Verpflichtungen gegenüber den Separatisten verbunden, welche die Ukraine im ersten Minsker Abkommen eingegangen war.

In den Niederlanden durchlief die Ratifizierung des Abkommens folgende Schritte. Am 7. April 2015 stimmte das Repräsentantenhaus zu (119 Ja-Stimmen, 31 Nein-Stimmen). Am 7. Juli stimmte der Senat zu (55 Ja-Stimmen, 20 Nein-Stimmen). Am 8. Juli 2015 fertigte der König das entsprechende Gesetz aus. Die Initiative GeenPeil organisierte ein Referendumsbegehren gegen das Gesetz. In der ersten Stufe mussten 10‘000 Befürworter gefunden werden. Am 13. August 2015 stellte die zuständige Wahlbehörde (Kiesraad) fest, dass 13‘480 gültige Anforderungen zusammen gekommen waren, und legte den Zeitraum für die zweite Stufe auf den 18. August bis 28. September fest. In diesem Zeitraum mussten 300‘000 Anforderungen eingehen, bei 16,8 Millionen Einwohnern. Die Hürde ist hoch: Auf Deutschland hochgerechnet wären das 1,44 Millionen Anforderungen.

Am 14. Oktober 2015 gab der Kiesraad bekannt, dass 427‘939 gültige Anforderungen zusammen gekommen waren. Daraufhin musste ein Referendum innerhalb von 6 Monaten angesetzt werden. Eine Lobby-Organisation legte Rechtsmittel gegen die Anerkennung der Anforderung durch die Wahlbehörde ein. Die Beschwerde wurde am 22. Oktober 2014 vom höchsten Verwaltungsgericht der Niederlande (Raad van Staate) abgewiesen. Daraufhin setzte der Kiesraad das Referendum für den 6. April 2016 an. Die Niederlande haben zu diesem Zeitpunkt die EU-Ratspräsidentschaft inne.

Nach der niederländischen Verfassung können keine bindenden Referenden abgehalten werden. Falls sich eine einfache Mehrheit der teilnehmenden Wähler gegen das Ratifizierungsgesetz ausspricht und die Mindestbeteiligung von 30% der Wahlberechtigten erreicht wird, müssen sich beide Parlamentskammern noch einmal mit dem Gesetz befassen. Sie könnten es dann zurückziehen, abändern oder gegen den Willen des Volkes dennoch in Kraft setzen.

Die gegenwärtige Regierungspolitik in Bezug auf das Referendum ist widersprüchlich. Einerseits behauptete der Premierminister Mark Rutte, die Wähler würden nur gegen die Ratifizierung stimmen, weil sie diese als ein Prejudiz für einen EU-Beitritt der Ukraine ansehen würden, was sie nicht sei. Es gehe nur um ein Freihandelsabkommen. Andererseits wurde das Referendum durch die Regierungspartei VVD schon im Vorfeld zu einer Auseinandersetzung zwischen Putin-Unterstützern und Putin-Gegnern stilisiert. Die Initiatoren GeenPeil wollen nur für eine hohe Beteiligung werben, aber keine Wahlempfehlung abgeben.

Die Umfrage

Der niederländische Nachrichtensender EenVandaag hat die erste Umfrage zum Referendum veröffentlicht. Danach wollen 53% der 27‘000 Befragten sicher abstimmen, weitere 17% wollen wahrscheinlich abstimmen. Zusammen liegt das nahe an der Beteiligung an der letzten Parlamentswahl vom 12. September 2012 (74,6%) und auf jeden Fall weit über dem Quorum von 30%.

Etwas mehr als die Hälfte der Befragten gab an, die Ratifizierung sicher ablehnen zu wollen, ein weiteres Viertel gab an, das wahrscheinlich zu tun. EenVandaag will solche Umfragen bis zum Referendumstermin wiederholt durchführen.

Die VVD hatte bereits im September 2015 bekanntgegeben, sie werde sich um den Willen der Wähler nicht scheren. Zwei weitere Parteien, welche die Ratifizierung ursprünglich unterstützt hatten, wollten sich dagegen nicht festlegen. Sollte es wirklich nahe bei 70% Beteiligung am Referendum und eine Dreiviertelmehrheit gegen die Ratifizierung geben, wie die erste Umfrage vorhersagt, dürfte es allerdings schwer werden, sowohl im Repräsentantenhaus als auch im Senat eine Mehrheit für das Festhalten an der Ratifizierung zu finden. Es würde sich dann sogar um eine Mehrheit aller Wahlberechtigten handeln, die in einer wichtigen außenpolitischen Frage das Regierungshandeln ablehnen.

Kommentar

EenVandaag hat nicht gefragt, warum die Wähler so abstimmen wollen, wie sie angegeben haben. Wir können dazu nur eine Wahrscheinlichkeitsuntersuchung anstellen. Wenn in der Zukunft bei Umfragen nach den Gründen gefragt wird, so wird das mit Entscheidungsfragen geschehen. Die folgende Frage wird dabei vermutlich nie gestellt werden: „Glauben Sie, dass die ukrainische Regierung für den Abschuss von MH-17 verantwortlich ist.?“ Genau diese Frage legt die Entwicklung aber nahe.

Angenommen, eine Mehrheit der Niederländer würde glauben, was ihnen ihre Mainstream-Medien und Politiker seit anderthalb Jahren wieder und wieder erzählt haben: Die Separatisten, erbitterte Gegner der gegenwärtigen Regierung der Ukraine und unterstützt von Putins Russland, haben MH-17 abgeschossen und dabei 192 Niederländer umgebracht. Sollte das nicht zu einer gewissen Solidarisierung mit dieser ukrainischen Regierung führen? Und wenn schon keine Solidarisierung, sollten die Niederländer nicht wenigstens davor zurückschrecken, der Kiewer Regierung und ihrer eigenen Regierung in Bezug auf deren Ukraine-Politik derart in den Rücken zu fallen, wie sie im Begriff scheinen, es tun zu wollen? Wenn die Niederländer in ihrer Masse politisch so ungebildet wären, dass sie nicht erkennen können, was für eine Katastrophe ihr „Nein“ zur Ratifizierung für die ukrainische Regierung sein würde, warum interessieren sie sich dann so sehr für diese Frage, dass 70% am Referendum teilnehmen wollen? Und sollten die an dieser Frage interessierten Bürger gleichzeitig so beschränkt sein, dass sie den Unterschied zwischen einem Assoziierungsabkommen und einer EU-Aufnahme nicht erkennen?

All diese Erklärungsmuster halte ich für hinreichend unwahrscheinlich, um sie mit Sicherheit auszuschließen. Wahrscheinlich ist vielmehr Folgendes:

Die öffentliche Meinung in den Niederlanden geht dahin, dass die Donbass-Separatisten MH-17 abgeschossen haben. Eine politisch interessierte und informierte Mehrheit der Bevölkerung ist hingegen zu dem Schluss gekommen, dass der Abschuss auf das Konto derjenigen Kräfte geht, die in Kiew immer noch an der Macht sind.

Wenn dem so ist, hat das Implikationen, die weit über die Ukraine-Frage hinausgehen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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