Geheimdiplomatie 2.0

UN-Migrationspakt Regierungen scheinen zunehmend davon auszugehen, sie müssten internationale Abkommen abschließen, ohne sie ihren Völkern zu erklären.

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Auf einer Generalversammlung der UN in Marrakesch am 10./11. Dezember soll der „Globale Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration“ angenommen werden. In der deutschen Öffentlichkeit ist wenig über die positiven und negativen Aspekte des Dokuments und überhaupt über dessen Bedeutung bekannt. Eine ausführliche Debatte im Bundestag kam nur auf Initiative der AfD-Fraktion überhaupt zustande. Die Bundesregierung hatte beabsichtigt, dem Pakt ohne Parlamentsdebatte und ohne Diskussion in der Öffentlichkeit zuzustimmen. Das erweckt unangenehme Erinnerungen an den Fall TTIP, wo mittels Geheimverhandlungen versucht wurde, ein Freihandelsabkommen abzuschließen, ohne demokratische Gepflogenheiten zu beachten.

Im Gegensatz zum gescheiterten TTIP-Abkommen ist der UN-Migrationspakt kein Ergebnis von Geheimdiplomatie im engeren Sinne. Der Entwurf wurde bis Mitte Juli 2018 ohne besondere Geheimhaltung ausgehandelt und die offizielle deutsche Übersetzung ist seit dem 30. Juli 2018 öffentlich einsehbar. Es gab genug Zeit für eine öffentliche Debatte. Bei der heutigen Informationsflut kommt eine solche aber nur zustande, wenn die Regierung sie aktiv anstrebt. Politiker reden gern davon, „die Menschen mitzunehmen“. Das ist hier offensichtlich unterblieben und es ist paradox. Das Dokument ist nämlich nicht zuletzt darauf angelegt, Akzeptanz in der Bevölkerung zu erreichen. Der Verdacht liegt nahe, dass die Bundesregierung gerade auch im Hinblick auf die Landtagswahlen in Bayern und Hessen einer unbequemen Diskussion ausweichen wollte. Gleichwohl will sie dem Abkommen zustimmen.

Das ist Wasser auf die Mühlen der AfD, zumal mit Österreich, Ungarn, Polen und Kroatien mehrere EU-Länder den Pakt in der vorliegenden Form ablehnen wollen. Die EU, die der französische Präsident gern mit einer eigenen Armee ausstatten möchte, kann sich wieder einmal nicht auf Grundlinien der Außenpolitik einigen. Während begründete Hoffnung besteht, dass Emmanuel Macron erfolglos bleiben wird, bleibt die Frage ungeklärt, ob eine Zustimmung Deutschlands zum UN-Migrationspakt in seiner jetzigen Form sinnvoll ist oder nicht. In diesem Blog versuche ich mich an einer Antwort auf der Basis einer sachlichen Kritik des Dokuments.

Migration: Quelle des Wohlstands, der Innovation und der nachhaltigen Entwicklung

Dem Dokument wird von der AfD wie auch von den Regierungen einiger anderer EU-Länder vorgeworfen, Propaganda für eine Ausweitung der Migration zu machen. Dieser Vorwurf ist in seiner Absolutheit nicht gerechtfertigt, denn bereits als Ziel 2 ist die „Minimierung nachteiliger Triebkräfte und struktureller Faktoren, die Menschen dazu bewegen, ihre Herkunftsländer zu verlassen“ formuliert (salopp: Bekämpfung von Migrationsursachen).

Gleichwohl ist dem Dokument eine Schieflage zu attestieren, die zuweilen an Orwellsches Neusprech erinnert. Die Vision und Leitprinzipien stellen einseitig auf Vorteile der Migration ab und erwähnen Nachteile höchstens verbrämt als Herausforderungen. Die nordamerikanischen Indianer standen aber angesichts der Migrationswelle aus Europa nicht einfach vor einer Herausforderung, die sie hätten meistern können. Ihre Lebensweise beruhte auf der Ressource Land, das ihnen im großen Umfang zur Verfügung stand. Diese Ressource machten ihnen die Migranten streitig, mit dem Ergebnis, dass die Ansässigen ihre bisherige Lebensweise aufgeben mussten und zahlenmäßig so dezimiert wurden, das ein Vergleich mit Genoziden nicht absurd wirkt. Für derartig katastrophale Ergebnisse großer Migrationswellen gibt es weitere Beispiele in der Geschichte. Die Fälle der Ainu auf den japanischen Inseln und der Aboriginals in Australien liegen ähnlich. Dem Römischen Reich und seinen Bürgern hat die Völkerwanderung auch nicht gutgetan. Wer mögliche Nachteile großer Migrationsströme ausblendet, macht sich unglaubwürdig.

Dennoch kann Migration durchaus eine Quelle des Wohlstands, der Innovation und der nachhaltigen Entwicklung sein, wie in der Vision formuliert. Die Federführung dieses Dokuments lag bei einem Mexikaner und einem Schweizer. Mexiko ist ein Herkunfts- und Transitland von Migrationsströmen und bei allen Problemen auch ein Beispiel für positive Aspekte von Migration für ein Herkunftsland. In der Schweiz lebten 2017 laut amtlicher Statistik 2.1264 Millionen Ausländer, was einem Viertel der Gesamtbevölkerung entspricht. Etwa 5% der Gesamtbevölkerung kann man fremden Kulturkreisen zurechnen. Der Trend ist steigend. Der Schweiz geht es wirtschaftlich blendend und die Ausländer tragen dazu auf allen Ebenen bei, bis hin zur Führung kleiner und mittlerer Unternehmen. Der große Anteil und der starke Anstieg in den vergangenen Jahrzehnten legen tatsächlich nahe, dass, wie im Migrationspakt angedeutet, geordnete und reguläre Migration in unserer globalisierten Welt auch bei einem sehr groß Zustrom noch vorteilhaft sein kann.

Dadurch lässt sich aber nicht die Frage wegwischen, bei welcher Migrationsrate das Optimum liegt – und zwar für die Herkunftsländer, die aktive und intelligente Menschen verlieren, sowie für die Zielländer, welche die nötige Infrastruktur schaffen und die Ankömmlinge in ihre Gesellschaft und Wirtschaft integrieren müssen. Umgangen wird im Dokument vor allem die Frage, ob der Wunsch nach Migration in den Herkunftsländern diese optimale Rate übersteigt. Wenn ja, sind „geordnet und reguliert“ Euphemismen für „begrenzt“ und zu Mechanismen der Begrenzung schweigt sich das Dokument aus. Auf der anderen Seite empfiehlt es viele Maßnahmen, die Migration attraktiver machen. Bei aller Menschenfreundlichkeit ist das nur dann sinnvoll, wenn die gegenwärtige Migrationsrate unterhalb der optimalen liegt. Daran haben viele Leute in den Zielländern ihre Zweifel und der Migrationspakt in seiner jetzigen Form ist ungeeignet, diese Zweifel zu beseitigen. Sätze wie „Zu diesem Zweck verpflichten wir uns, eine sichere, geordnete und reguläre Migration zum Wohle aller zu erleichtern und zu gewährleisten.“ sind für große Teile der Bevölkerung der Zielländer ein rotes Tuch.

Bedenklich wird die Schieflage des Ansatzes bereits bei Ziel 1, wo es um die Erhebung und Nutzung von Daten als Grundlage faktenbasierter politischer Entscheidungen geht. Hier soll vor allem nach Daten gesucht werden, die Vorteile belegen (Punkt d), was im Gegensatz zu den Kriterien guter ergebnisoffener Forschung steht und gerade nicht zu einer Faktenbasierung der Politik führen wird. Die rationale Abwägung von Vor- und Nachteilen erfordert, dass die einen wie die anderen bekannt sind.

Was fehlt

In einem ernsthaften Dokument hätte man nicht nur erwartet, dass ehrlich Vor- und Nachteile beschrieben und abgewogen werden, sondern auch, dass auf Migrationsursachen eingegangen wird. Das geschieht nur sporadisch und unvollständig. Der Beweggrund für Migration ist er Wunsch nach einem besseren Leben, was sehr breit definiert sein kann und persönliche Sicherheit, materiellen Wohlstand aber auch ideelle Wirkungsmöglichkeiten meinen kann. Dem stehen Bindungen an das Herkunftsland entgegen. Wenn das Gefälle in den Lebens- und Arbeitsbedingungen nicht sehr stark ist, bleibt die Migrationsrate gering und liegt vermutlich sogar unterhalb der optimalen. Gegenwärtig ist der Migrationsdruck in Süd-Nord-Richtung (Australien ausgenommen) aber sehr groß und es ist notwendig, die Ursachen für diesen Druck über den Gemeinplatz der Suche nach einem besseren Leben hinaus zu benennen.

Aus meiner Sicht gibt es drei wesentliche Ursachen für den starken Migrationsdruck. Die erste ist eine mangelhafte Organisation der Gesellschaft in den Herkunftsländern mit all ihren Auswirkungen auf persönliche und wirtschaftliche Sicherheit. Wir reden hier, salopp gesprochen, von Trumps „Drecksloch“-These, und dieser Punkt wird im Ziel 2 (Minimierung nachteiliger Triebkräfte) unter Punkt b) auch angesprochen. Freilich steht dort nur eine Wunschliste, während andernorts für die gewünschten Veränderungen in den Zielländern konkrete Maßnahmen benannt werden.

Die zweite Ursache ist ein Bevölkerungswachstum in den Herkunftsländern, das deren eigene Möglichkeiten überschreitet, die jungen Leute in die gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen zu integrieren und bisweilen sogar die zur Verfügung stehenden Ressourcen. Dieser Punkt wird im Pakt überhaupt nicht angesprochen. Für viele Herkunftsländer sind Geburtenkontrolle oder andere Forme einer aktiven Bevölkerungspolitik Anathema und sie würden dem Pakt nicht zustimmen, wenn er darauf einginge. So aber versucht der Pakt nur, Ströme zu kanalisieren, die aller Erwartung nach zu groß sein werden und begrenzt werden müssen. Zur Begrenzung dieser Ströme schweigt er sich aber aus.

Die dritte Ursache ist die weit und billig verfügbare globale Kommunikation, durch die einerseits wirtschaftlich etwas besser gestellten jungen Menschen in den Herkunftsländern das große Gefälle im materiellen Wohlstand bewusst wird. Andererseits erleichtert die billige Kommunikation und Informationssuche Migrationsbewegungen erheblich. Hier gäbe es einen Angriffspunkt. Die Bilder, die aus dem Norden bzw. dem politischen Westen heranflimmern, täuschen die jungen Leute in den Herkunftsländern über das, was sie dort tatsächlich erwartet. Wenn man, wie man im Pakt beschrieben, in den Zielländern durch Einflussnahme auf die Medien die Bevölkerung über die Chancen von Migration aufklären und Fremdenfeindlichkeit abbauen will, so müsste man eben auch in den Herkunftsländern migrationsabschreckende Propaganda machen. Darauf geht der Pakt höchstens sehr verbrämt ein und dann auch nur in Bezug auf irreguläre Migration. Aber auch bei der regulären Migration erfüllen sich die Hoffnungen der Migranten sehr häufig nicht, mit allen negativen Folgen für sie selbst und die Zielländer.

Alles nicht bindend?

Nachdem das Thema gegen den Wunsch der Regierung in die Öffentlichkeit gelangte, war die Hauptverteidigungslinie von Politik und Medien, dass der Pakt nicht bindend sei. Das ist ein seltsam defensives Argument. Die AfD stellte denn auch die Frage, warum man eigentlich die Zustimmung zu einem Pakt für nötig halte, wenn dieser nicht bindend sei. Die Regierung beantwortete diese Frage nicht. Sie wissen schon: Wasser auf die Mühlen der AfD.

Tatsächlich wird im Text (Seite 4, Punkt 15b) ganz explizit gesagt: „Der Globale Pakt ist ein rechtlich nicht bindender Kooperationsrahmen“. Schon in der Präambel (Punkt 7) heißt es, dass die Souveränität der Staaten gewahrt bleibt. Es folgt unausweichlich, dass es sich gar nicht um einen Pakt in dem Sinne handelt, in dem das Wort im Deutschen verstanden wird. Gleichwohl findet man im Text an verschiedenen Stellen die Wendung „wir verpflichten uns“. Das erscheint widersprüchlich und man hätte es der Öffentlichkeit erklären müssen.

Der Punkt ist, dass keine Aussage in diesem Text vor einem internationalen oder nationalen Gericht einklagbar sein wird. Zumindest kann sich kein Gericht in der Urteilsfindung auf diesen Text berufen. Eine Nichtumsetzung der vereinbarten Punkte in nationales Recht ist kein Vertragsbruch. Es handelt sich, deutsch gesagt, um eine Absichtserklärung, nicht um einen Pakt.

Dennoch kann eine solche Absichtserklärung als Leitlinie künftiger Politik sinnvoll sein. Die Regierung kann sich bei einer Gesetzesinitiative sehr wohl auf das Dokument berufen und sagen, es bestünde Handlungsbedarf, weil man das vor der UN-Generalversammlung zugesichert habe. Wo die Linie zu ziehen ist, lässt sich leicht am Beispiel Frankreichs erklären. Wenn Frankreich unter Macron dem UN-Migrationspakt zustimmt, darf man unter Macron eine schrittweise Umsetzung erwarten. Falls die innenpolitischen Widerstände in bestimmten Punkten zu groß werden, kann er sie allerdings auch auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben, ohne als vertragsbrüchig zu gelten. Das Dokument verlöre vollends seinen Wert, wenn Marine Le Pen die nächste Präsidentschaftswahl gewönne. Sie müsste sich in keiner Weise daran gebunden fühlen. Analog gilt das für alle anderen Länder, die ihm zustimmen werden.

Man kann es auch in der Originalsprache der offiziellen Übersetzung des Dokuments ausdrücken: „Die Autorität des Paktes beruht auf seinem Konsenscharakter, seiner Glaubwürdigkeit, seiner kollektiven Trägerschaft und seiner gemeinsamen Umsetzung, Weiterverfolgung und Überprüfung.“ Diesen Satz kommentiere ich nicht, denn ein Kommentar fiele notwendigerweise zynisch aus. Zur Glaubwürdigkeit habe ich mich ja bereits weiter oben geäussert.

Warum also das Ganze?

Man kann davon ausgehen, dass diejenigen, die das Abkommen ausgehandelt haben, intelligent sind und ein Grundwissen über die jetzige Welt und die Geschichte besitzen. Man kann ganz sicher davon ausgehen, dass sie keiner von George Soros gesteuerten sinistren Freimaurer-Loge angehören, die eine „Umvolkung“ der Länder des Nordens plant. Es ist ebenfalls anzunehmen, dass sie keinesfalls politisch naiv sind – sie werden genau deshalb ausgewählt worden sein, weil sie Verhandlungsexpertise und damit Expertise im Interessenausgleich besitzen. Warum wirkt das Dokument dann so unausgegoren?

Die Antwort darauf ist der oben zitierte „Konsenscharakter“. Die Interessengegensätze zwischen Herkunfts- und Zielländern sind in dieser Frage groß. Das Interesse der Transitländer lässt sich grob damit bezeichnen, dass sie nicht selbst zu Zielländern werden wollen, weil die Migranten ihre eigentlichen Zielländer nicht erreichen können. Außerdem wünschen sie eine Begrenzung der Migrantenströme auf ein Maß, das ihrer Infrastruktur entspricht. So lange der Strom dieses Maß nicht überschreitet, kann er für die Transitländer ein positiver Wirtschaftsfaktor sein.

Viele Herkunftsländer haben ein Interesse an einer fast unbegrenzten Migration. Mit ihrem unkontrollierten Bevölkerungswachstum können sie nicht umgehen und gerade die jungen Männer, die keine angemessene Beschäftigung finden, sind eine Gefahr für die politische Stabilität. Es ist besser, wenn viele von ihnen wegziehen, zumal ein Teil von ihnen im Ausland erworbenes Geld schicken und damit einen wirtschaftlichen Beitrag für das Herkunftsland leisten wird. Nachteile ergeben sich erst dann, wenn der „brain drain“ spürbar wird. Der allerdings muss nicht unbedingt zum Nachteil der Herrschenden sein und solange die intelligenten Leute nicht zu Hause teuer ausgebildet wurden, fällt er auch wirtschaftlich kaum ins Gewicht. Es kann sogar von Vorteil für die Entwicklung eines Landes sein, in einer gewissen Phase viele intelligente und aktive junge Leute in höher entwickelte Länder zu „exportieren“. China etwa ist damit sehr gut gefahren. Viele der Ausgewanderten sind zwar in den USA und in Großbritannien geblieben, aber gar nicht so wenige sind auch nach China zurückgekehrt, sobald die Entwicklung dort so weit fortgeschritten war, dass sie ihnen bessere Chancen bot. Sie brachten eine Expertise mit, die sie im gleichen Zeitraum in China nicht hätte erwerben können. Zudem hat das moderne China eine Diaspora, die aus wirtschaftlichen und diplomatischen Gründen von Vorteil ist.

In den Zielländern ist in aller Regel die Mehrheit der Bevölkerung für eine starke Begrenzung der Migration. In vielen Zielländern dürfte sogar der Slogan „So wenig Migration wie möglich“ mehrheitsfähig sein. Die Zielländer sind parlamentarisch demokratisch verfasst, so dass man annehmen könnte, dass die Regierungen diesen Interessen entsprechen. Wie ist es dann zum Text des UN-Migrationspakts gekommen?

Die Antwort liegt in wirtschaftlichen Interessen in den Zielländern. Unternehmen haben grundsätzlich ein Interesse an einem höheren Arbeitskräfteangebot. Aufgrund der Verteilung der Steuerlast kommen sie nur zu einem Bruchteil für die damit verbundenen Infrastrukturkosten auf. Einige Unternehmen haben ein Interesse an den Infrastrukturaufträgen. Was die Arbeitskräfte angeht, so sind Migranten im Durchschnitt schlechter ausgebildet als einheimische Arbeitskräfte mit vergleichbarer Intelligenz und vergleichbarer Willenskraft. Sie haben aber auch ein geringeres Anspruchsniveau. Es ist also vorteilhaft, auf dem geringeren Qualifikationsniveau einheimische Arbeitskräfte durch intelligentere und arbeitsamere Migranten zu ersetzen. Ein Teil der Migranten lässt sich freilich nicht in die Prozesse einer hochorganisierten und hochproduktiven Wirtschaft integrieren. Dieses Problem bleibt aber nicht an den Unternehmen hängen, sondern an diesen Migranten, an den sozialen Sicherheitssystemen und, sofern es wie in einigen französischen Vorstädten endet, an der Gesellschaft insgesamt.

Nun muss man nicht allen, die auf Seiten der Zielländer den UN-Migrationspakt ausgehandelt haben, ein einseitiges Vertreten von Wirtschaftsinteressen zulasten der Interessen von Arbeitnehmern und Gehaltsempfängern zuschreiben. Nicht wenige von ihnen dürften politisch intelligent genug sein, um sich der Wirtschaftsinteressen nur zu bedienen, damit überhaupt ein Kompromiss möglich wurde. Warum könnte ein Idealist an einem solchen, auch noch so unvollständigen und wackligen Kompromiss interessiert sein?

Diese Antwort findet man, wenn man die Alternative in Betracht zieht. Das Dokument hat darin Recht, dass Migration ein globales Problem ist, das kein Land allein lösen kann. Wenn dem so ist, ist selbst ein minimaler Lösungsansatz besser als gar keiner. Zudem kann das Problem ja auch nicht rein rational betrachtet werden. Migration schafft auch Migrantenelend und führt zum Tod vieler Migranten und es ist ehrenwert, hier eine Verbesserung der Situation erreichen zu wollen.

Der Preis ist freilich ein Verschließen der Augen vor den Realitäten. Nichts im UN-Migrationspakt, was konkret umsetzbar wäre, verringert den Migrationsdruck auf Seiten der Herkunftsländer. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird dieser Migrationsdruck auf absehbare Zeit, also noch Jahrzehnte, größer sein als die Integrationsfähigkeit und der politische Aufnahmewille in den Zielländern. Insofern macht der Pakt mit der Illusion einer regulären geordneten Migration den Herkunftsländern und ihrer Bevölkerung ein uneinlösbares Versprechen. Viele der Maßnahmen wirken auf eine Erleichterung der Migration, auf bessere Bedingungen auf den Migrationsrouten und teilweise auch auf bessere Bedingungen für Migranten hin, die irregulär in die Zielländer gekommen sind. Werden diese Maßnahmen tatsächlich umgesetzt, so wird die Migrationsrate ansteigen, der Widerstand der Bevölkerung in den Zielländern wird wachsen und schließlich wird die Migration gewaltsam begrenzt werden. Keine Propaganda der Welt kann dem abhelfen.

Stadt, Land, Graben

Hier stellt sich nun wieder die Frage, ob nicht die deutsche Regierung wenigstens etwas Propaganda hätte machen sollen, also die geplante Zustimmung in Marrakesch statt mit Feigheit vor der Öffentlichkeit mit Erklärungen für die Öffentlichkeit hätte vorbereiten müssen. Unter den Zielländern ist Deutschland ja noch eines mit relativ hoher Toleranz für Migrantenströme. Ja, die CDU und Angela Merkel haben bei den Bundestagswahlen 2017 Federn gelassen. Aber sie und andere Kräfte, die für die Entscheidung 2015 waren, haben immerhin noch eine Mehrheit erzielt. Der Zustrom von mehr als einer Million Menschen hat nicht zu wirtschaftlichen Verwerfungen geführt und die chaotischen Zustände wurden beseitigt, sobald die Zustromrate etwas zurückgegangen war. Trotz der hysterischen Berichterstattung über Einzelereignisse hat die öffentliche Sicherheit nicht stark gelitten. Wenn es darum ginge, eine als richtig erkannte Politik fortzusetzen, könnte die Regierung selbstbewusster sein.

Parteien denken aber nicht (nur) gesamtgesellschaftlich, sie denken vor allem auch im Parteiinteresse und alle drei Regierungsparteien befinden sich in einer Krise. Ihr Volkspartei-Bemühen, Wähler aus beiden Lagern der Migrationsdiskussion zu halten, hat dazu geführt, dass viele aus dem Pro-Migrationslager zu den Grünen und viele aus dem Anti-Migrationslager zur AfD abgewandert sind. In dieser Situation schien es aus parteitaktischen Gründen geboten, die Migrationsfrage so weit wie möglich aus der öffentlichen Diskussion herauszuhalten. Das löst freilich die Probleme nicht, weder dasjenige der Regierungsparteien noch dasjenige der Selbstverständigung der Gesellschaft auf einen internen Konsens in der Migrationsfrage.

Grob gesagt erfordert ein solcher Konsens die Verständigung zwischen urbanen und bodenständigen Wählern, zwischen Stadt und Land, zwischen denen, die sich für eine intellektuelle Elite halten und den kleinen Leuten. Die Fronten sind nicht ganz so scharf, denn auch der Neuen Rechten halten sich Leute für die eigentliche intellektuelle Elite und nicht wenige Stadtbewohner haben alle Eigenschaften kleiner Leute. Der Graben zwischen beiden Gruppen in der Migrationsfrage aber ist tief. Auf der einen Seite stehen die Grünen, einschließlich von Annegret Kramp-Karrenbauer und auf der anderen Seite die Rechten einschließlich von Horst Seehofer und Jens Spahn. Kein Wunder, dass die Union eine Debatte über den UN-Migrationspakt vermeiden wollte. Wenn irgend möglich, wird die CDU aus Kandidaten, die für verschiedene Richtungen stehen, eine(n) Parteivorsitzende(n) auswählen, ohne eine Richtungsdebatte zu führen. Diese Partei trägt nicht, wie vom Grundgesetz gefordert, zur politischen Willensbildung des Volkes bei. Sie lähmt diese.

Die jeweiligen Meinungshoheiten liegen also bei den Grünen und bei der AfD, deren gemeinsamer Wählerzuspruch ja auch kaum noch hinter dem der «Großen» Koalition liegt. Der typische Wähler der Grünen ist urban, gut situiert und verdient sein Geld mit dem, was David Graeber als Bullshit Jobs bezeichnet. Dieses Segment des Arbeitsmarkts ist neuen Migranten nicht zugänglich, weil sich die Herkunftsländer den Luxus von Bullshit-Jobs nur in sehr geringem Umfang leisten können. Wer dort eine Chance hat, einen solchen zu bekommen, wandert nicht aus. Die Migranten bringen dafür keinerlei Expertise mit, selbst wenn sie gebildet sind. Der typische Wähler der Grünen wohnt zudem dort, wo Migranten nicht auftauchen und schickt seine Kinder in Schulen mit geringem Ausländeranteil. Kurz, er hat keinen Grund, Migration als Problem zu empfinden und fühlt sich edel, wenn er für Migration eintritt.

Obwohl - manchmal passiert Freiburg. Dann kommt schon mal ein grüner Ministerpräsident zu dem Schluss, es gäbe aggressive junge Männer unter den Migranten, eine gefährliche Gruppenpsychologie unter diesen und man schicke sie doch besser einzeln in die Pampa – womit er ländliche Gebiete des Bundeslandes meint, in dem er wiedergewählt werden möchte. Aber eben, in den ländlichen Gebieten wird so schon weniger grün gewählt.

Die AfD lacht sich derweil ins Fäustchen. Wählt die CDU Kramp-Karrenbauer, so verliert sie den Rest der konservativen Wähler und dann reicht es nicht mehr für schwarz-grün. Wählt sie den auf einmal überraschend kleinlauten Merz, so steuert sie auf die Juniorpartnerschaft in einer grün-schwarzen Regierung zu und verliert dann die konservativen Wähler. Wählt sie wider Erwarten Spahn, so peilt sie die Umfragewerte der SPD an.

Hat das noch mit dem Thema des Blogs zu tun? Es hat. So, wie die Regierung versucht hat, den UN-Migrationspakt nicht in der Öffentlichkeit zu diskutieren, so wird sie auch versuchen, ihn als folgenlose Absichtserklärung zu betrachten. Es geht dabei gar nicht in erster Linie um die Wählerumfragen. Union und SPD sind inhärent debattenunfähig, so lange sie am Volksparteienkonzept festhalten, das sie anhand ihrer Umfragewerte eigentlich bereits als obsolet erkannt haben müssten.

Vertane Chancen

Nach meiner Kritik am UN-Migrationspakt weiter oben mag es verwundern, dass ich dafür bin, ihm zuzustimmen und dass ich dafür bin, dass die Bundesregierung zumindest Teile davon umsetzt. Die Gefahr einer so starken Erleichterung der Migration durch die Zielländer, dass die Gegenreaktion der Bevölkerung später eine gewaltsame Begrenzung erfordert, ist verschwindend gering. Seit der Aushandlung des Paktes war die EU bei der Behinderung der Migration über das Mittelmeer erfolgreicher als Donald Trump beim Mauerbauen. Sobald sich die neue italienische Regierung geweigert hatte, wie bisher die Last für die EU fast allein zu tragen und sich das Problem auf Malta und Spanien verlagerte, war plötzlich der politische Wille da, etwas zu ändern. Der Migrationsstrom nahm daraufhin ab, nicht zu.

Dennoch ist es so, dass der Strom nicht zum Erliegen kommen wird, dass Migranten und Schlepper neue Wege finden werden und dass die Gesellschaften der Zielländer damit umgehen müssen. Neben den Punkten, die ich kritisiert habe, enthält der 32-seitige Text viele vernünftige Vorschläge. Ja, man muss Kapazitäten im Gesundheitswesen und Schulwesen schaffen, um die Migranten zu integrieren. Das liegt auch in Deutschland im Argen. Ja, Aufklärung gegen Rassismus und Fremdenhass tut not und wo erforderlich, auch die Verfolgung von Hassverbrechen gegen Ausländer – auch wenn es um rassistische Polizisten geht.

Der Text des UN-Migrationspakts war eine Chance für die Gesellschaft, sich darüber klar zu werden, wie sie zukünftig Migration organisieren will und wo die Grenzen liegen. In der kurzen öffentlichen Debatte kam das nicht vor. Er war auch eine Chance für eine Versachlichung der Debatte, eine Unterscheidung zwischen Flucht und Migration, die Anerkennung des Umstandes, dass es weder sinnvoll noch möglich ist, Migration auf Null zu begrenzen und für eine Diskussion der Frage, unter welchen Umständen die unvermeidliche Migration zum Vorteil für alle werden könnte, nicht nur für Unternehmen. Diese Chancen wurden vertan.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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