Lehren aus dem Mumbai SeroSurvey

Covid-19 Zuverlässige Information erhält man nicht, indem man möglichst viel Geld für Tests ausgibt, sondern indem man wissenschaftliche Standards beachtet.

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Als klar wurde, dass die Covid-19-Pandemie Indien erreicht hatte, sah sich die indische Regierung mit einem Problem konfrontiert, das sie für größer hielt als in anderen Ländern. Der Grund dafür waren die Verhältnisse in den indischen Slums, um die die Regierung nur zu gut Bescheid wusste. Das schlimmste erwartete Szenario ging von folgenden Grundannahmen aus:

  1. Die Ausbreitung von Covid-19 in den Slums würde unkontrollierbar sein.
  2. Die Sterbewelle in den Slums würde zu sozialen Unruhen oder sogar Aufständen führen.
  3. In der Folge würde die Situation in ganz Indien, auch für andere Bevölkerungsschichten, außer Kontrolle geraten.

Dementsprechend folgte die indische Regierung den WHO-Empfehlungen zum „social distancing“ in sehr hohem Maße. Am 11. März, als die WHO Covid-19 zur Pandemie erklärte, lag der Oxford-Strenge-Index (Schulschließungen, Schließung von Arbeitsplätzen, Verbot öffentlicher Veranstaltungen, Einschränkung von Versammlungen, Ausgangssperren, interne Reisebeschränkungen, Grenzschließungen) in Indien bei 26.85. Am 22. März erreichte er erstmals das Maximum von 100 und verblieb dort mit einer kurzen anfänglichen Unterbrechung bis zum 19. April. Der mittlere Oxford-Strenge-Index (OSI) vom 11. März bis zum letzten verfügbaren Wert am 7. August beträgt 81.4, womit Indien weltweit Rang 14 der strengsten Länder belegt. Der Gesamtverlauf des OSI ist in Abbildung 1 zusammen mit der Entwicklung der Sterbefälle dargestellt. Die Zahl der täglich gemeldeten Sterbefälle steigt bisher kontinuierlich an, liegt aber nach wie vor unter der mittleren Zahl von Sterbefällen durch Atemwegserkrankungen 2016.

Vergleichen lässt sich diese Darstellung mit derjenigen für Honduras, das mit einem mittleren OSI von 95.8 das strengste Land weltweit ist. Dort lag die Zahl der Sterbefälle seit Ende März weit über der mittleren Zahl der Sterbefälle durch Atemwegserkrankungen 2016. Der seit dem 22. März, vor dem ersten Todesfall, vollständige Lockdown (OSI = 100) und ein OSI von 96.3 vom 31. März bis zum 7. August haben nicht verhindert, dass Honduras mittlerweile ähnlich stark betroffen ist wie Schweden. Über den Gesamtverlauf der Epidemie wird es sehr wahrscheinlich stärker betroffen sein.

Es stellen sich daher die Fragen, ob der indische Lockdown – zum Beispiel wurde in der 12-Millionen-Metropole Mumbai der öffentliche Nahverkehr eingestellt – die unkontrollierte Ausbreitung von Covid-19 in den Slums verhindern konnte und falls nicht, welche Konsequenzen das hatte. Auf diese Fragen gibt es wissenschaftlich fundierte Antworten. Sie stammen aus dem Mumbai SeroSurvey, der im Juli unter der Leitung von Prof. Ullas Kolthur and Prof. Sandeep Juneja vom Tata Institute of Fundamental Research (TIFR) durchgeführt wurde. Obwohl das TIFR für indische Verhältnisse finanziell gut ausgestattet ist und Drittmittel eingeworben werden konnten, waren die zur Verfügung stehenden Mittel deutlich geringer als diejenigen, die etwa das Robert-Koch-Institut (RKI) in Deutschland für eine ähnliche Studie aufbringen könnte. Die Ergebnisse und ihre Diskussion in einem öffentlichen Kolloquium am 7. August, dessen Aufzeichnung auf YouTube verfügbar ist, sind allerdings erheblich fundierter und klarer als alles, was ich vom RKI zu Covid-19 bisher zu hören und lesen bekommen habe.

Professor Ullas Kolthur-Seetharam befasst sich in seiner eigenen Forschung mit der Regulierung der Genexpression im Zusammenhang mit metabolischen Krankheiten. Prof. Sandeep Janeja ist Experte für das Design von Testreihen und die Datenanalyse. Eine wichtige Rolle spielte auch Dr. Jayanti Shastri, der an der Entwicklung eines indischen ELISA IgG-Antikörper-Tests auf SARS-Cov2 beteiligt war, obwohl die Studie dann einen CLIA-Test nutzte.

Design des Mumbai SeroSurvey

Neben der hochinteressanten, anderthalbstündigen Aufzeichnung des Kolloquiums vom 7. August geben auch eine Presseinformation zum Start des Projekts und ein kurzer technischer Bericht zum Abschluss des Projekts Auskunft über das Design der Studie. Das Ziel war es, zuverlässige Daten über den zeitlichen Verlauf der Epidemie und über den tatsächlichen Anteil infizierter Personen in der Gesamtbevölkerung zu erhalten. Die Wissenschaftler wollten zudem etwas über die Altersverteilung und die örtliche Verteilung sowie zu Risikofaktoren erfahren. Schließlich ging es ihnen darum, ein weniger verzerrtes Bild des Sterberisikos zu erhalten, also eine Abschätzung der infection fatality rate (IFR).

Die Forscher haben sich für Antikörper-Tests entschieden, weil diese preiswert sind und eine Spezifizität aufweisen, die praktisch 100% beträgt (verschwindend wenige falsch positive Ergebnisse). Die Sensitivität beträgt ab etwa 9 Tage nach der Infektion 92.7% (mindestens 85.6% als untere Grenze eines 95%-Konfidenzintervalls) und ist ab 14 Tage nach der Infektion etwas besser (93.4%). Die Konsequenz ist, dass die Ergebnisse die tatsächliche Zahl der Infizierten eher etwas unterschätzen, zumal längere Zeit nach der Infektion mitunter keine Antikörper mehr nachweisbar sind, insbesondere bei milden Verläufen. Die erste Runde von Tests wurde über 14 Tage im Juli durchgeführt. Diese Ergebnisse diskutiere ich weiter unten. Eine weitere Runde wird ab dem 13. August durchgeführt.

Eine große Stärke ist die Sandeep Juneja zuzuschreibende sorgfältige Strategie für den Testeinsatz. Das Ziel war eine Abschätzung der Prävalenz (Anteil der Infizierten in der Gesamtbevölkerung) mit einem Vertrauensintervall (95% Sicherheit) von ±1.5%. Davon und von einer Abschätzung der Prävalenz vor der Studie (10%) ausgehend, wurde die Zahl der nötigen Tests festgelegt. Die Forscher legten Wert darauf, bezüglich der Geschlechter und Altersgruppen sowie der Lokalität randomisiert vorzugehen, nie mehr als eine Person aus einem Haushalt zu testen und auch die nächsten drei Nachbarhäuser auszulassen. Ein Problem war die Abschätzung, welcher Anteil der Befragten auch in einen Test einwilligen würde. Bei der Slumbevölkerung nahmen die Wissenschaftler an, dass es 50% sein würden. Außerhalb der Slums erwarteten sie, wegen der Angst der Mittelschicht vor Stigmatisierung, eine geringere Einwilligungsrate.

Damit sind wir schon bei der zweiten Stärke der Studie, die nur zum Teil den Forschern zuzurechnen ist. Diese erkannten aber immerhin, welche einzigartige Möglichkeit sich in Mumbai bot. In indischen Großstädten läuft unabsichtlich ein epidemiologisches Experiment ab, das man aus ethischen Gründen niemals absichtlich durchführen könnte. Auf engem Raum leben zwei Gruppen unter völlig verschiedenen sozio-ökonomischen Verhältnissen (Abbildung 2) und haben prinzipiell Zugang zum gleichen Gesundheitssystem. Das sind die Slumbevölkerung und die Mittelschicht, wobei letztere zumeist in abgeschlossenen Gemeinschaften lebt. Die Gruppen halten untereinander schon unter Normalbedingungen einen strikten sozialen Abstand ein. Innerhalb der Slumbevölkerung ist dagegen „social distancing“ völlig unrealistisch, selbst wenn man die Leute davon überzeugen könnte, weil sie schlicht nicht genug Raum und individuelle Infrastruktur dafür zur Verfügung haben.

Die Forscher wählten drei Stadtbezirke (Matunga, Chembur West und Dahisar) aus, um die Studie weiter zu randomisieren, wobei Matunga ein ganzes Stück weit von den anderen beiden Bezirken entfernt ist. Die Bezirke haben auch zeitlich gegeneinander verschobene Kurven der positiven Tests (Minute 29 im Video des Kolloquiums). Alle Bezirke schienen Ende Juni den Höhepunkt der Welle überschritten zu haben, aber die Welle war noch nicht abgeklungen.

Im Großen und Ganzen hat das Design der Studie funktioniert. In den Slums war die Bereitschaft der Bevölkerung, sich testen zu lassen, unerwartet hoch (80%). Außerhalb der Slums war sie dagegen unerwartet niedrig, so dass dort nicht die angestrebte Zahl von Tests durchgeführt werden konnte. Dennoch sind auch dort die Ergebnisse noch statistisch signifikant.

Ergebnisse des Mumbai SeroSurvey

Die Ergebnisse der Studie waren so überraschend, dass sie weit über Indien hinaus Schlagzeilen machten, auch in der Schweiz. In Deutschland wurden sie, soweit ich das verfolgt habe, von den Medien weitgehend ignoriert. Die Prävalenz in den Slums betrug 57.8% (Matunga), 56.7% (Chemburi West) und 51.0% (Dahisar), was wegen der unterschiedlichen Größe einen Mittelwert von 57% ergibt. In den Nicht-Slums der gleichen Stadtbezirke betrug sie nur 17.4, 15.6 und 11.4%. Die Forscher halten es für möglich, dass die Ergebnisse in den Nicht-Slums etwas verzerrt sind. Personen die eine Infektion durchlaufen hatten, könnten weniger wahrscheinlich einem Test zugestimmt haben. Da der Unterschied zwischen Slums und Nicht-Slums jedoch sehr groß ist, kann er wohl kaum hauptsächlich durch diesen Effekt erklärt werden.

Desweitern fanden die Forscher einen signifikanten Unterschied in der Prävalenz zwischen Frauen Slums 59.3%, Nicht-Slums 16.8%) und Männern (Slums 53.2%, Nicht-Slums 14,9%), wobei unklar bleibt, ob es eine Frage der Physiologie oder des Sozialverhaltens ist. Bekannte oder vermutete Risikofaktoren für schwere Verläufe, wie Diabetes oder hoher Blutdruck, scheinen sich kaum auf das Infektionsrisiko auszuwirken. Auch bei der Altersverteilung gibt es keine starken Auffälligkeiten (Kinder unter 12 Jahren wurden nicht getestet). Die Benutzung gemeinschaftlicher Toiletten hingegen erhöht stark signifikant das Infektionsrisiko.

Die Prävalenzen sind konservative untere Grenzen. Zum einen sind sie noch nicht auf die Test-Sensitivität von nur 93% korrigiert. Ferner wurden in bekannt aktiv kontaminierten Zonen keine Proben genommen und von Personen in Quarantäne wurden auch keine Proben genommen. Es folgt daraus, dass ein großer Teil der Bevölkerung asymptomatische Verläufe hatte oder nur milde Symptome und dann ohne Behandlung genesen ist.

Weil die Prävalenz eine untere Grenze ist, ist der daraus ermittelte Anteil von Sterbefällen an den Infektionen (infection fatality rate, IFR) eine obere Grenze. Die IFR in den drei untersuchten Stadtbezirken von Mumbai beträgt maximal 0.0825%. Dagegen betrug der Anteil der Sterbefälle an den positiven SARS-Cov2-Tests (case fatality rate, CFR) am 17. Juli 6.25%.

Die Zahlen beziehen sich auf eine recht große Bevölkerungsgruppe. In den drei Slums waren 613‘853 Personen infiziert, in den Nicht-Slums immerhin noch 68‘652 Personen (Prävalenz multipliziert mit der Bevölkerungszahl).

Herdenimmunität in den Slums?

Das internationale Aufsehen, dass die Studie erregt hat, bezog sich hauptsächlich darauf, dass die Prävalenz in den Slums nahe an der Abschätzung von etwa 67% für die Herdenimmunität liegt, die zu Anfang der Epidemie gehandelt wurde. Die indischen Wissenschaftler sind da etwas vorsichtiger. Zunächst verweisen sie auf einen Punkt, auf den ich auch in „Ist „social distancing“ evidenzbasiert?“ gleich anfangs hingewiesen hatte. Die für die Berechnung der Herdenimmunität verwendete Basisreproduktionszahl R0 ist eine schlecht definierte und nicht direkt messbare Größe. Weder muss R0 zwischen verschiedenen Gesellschaften gleich sein, noch über die Zeit konstant, noch muss es auch für verschiedene soziale Gruppen einer Gesellschaft oder sogar für Teile dieser Gruppen gleich sein. Wir können nicht vorhersagen, wo die Grenze der Herdenimmunität liegt.

Zudem setzt das Konzept der Herdenimmunität voraus, dass die Immunität bestehen bleibt, wenigstens in einem Maße, das die mittlere Reproduktionszahl R unter 1 drückt. Wenn das nicht der Fall ist, so gibt es prinzipiell keine Herdenimmunität und ein Impfstoff ist dann aus epidemiologischer Sicht zwar immer noch hilfreich, aber nicht hinreichend für die Verhinderung einer weiteren Epidemiewelle.

Das bedeutet nicht, dass die durchlaufenen Infektionen oder eine Impfung für Einzelpersonen wertlos sind. Unterhalb der Verhinderung einer zweiten Infektion kann die „Erfahrung“ des Immunsystems zu einem leichteren Verlauf führen. Insofern ist auch die IFR keine Konstante - selbst für eine gleich zusammengesetzte Bevölkerung unter sonst gleichen Bedingungen nicht. Fall es keine bleibende Immunität gibt, ist dennoch eine Verringerung der IFR bei einer Welle zu erwarten, wenn diese vor allem aus Zweit- oder sogar Drittinfektionen der gleichen Personen resultiert.

Insgesamt kann man eine belastbare Antwort auf die Frage der Herdenimmunität nur durch weitere Tests erhalten. Genau das planen die indischen Wissenschaftler. Die zweite Testkampagne sollte bereits seit vorgestern laufen.

Ist die IFR von Mumbai ein brauchbarer Referenzwert?

Eine IFR von unter 0.1% lässt Covid-19 nicht als besonders ernsthafte Infektionskrankheit erscheinen. Nun ist es natürlich so, dass wir von einer hohen absoluten Durchseuchung gerade in den Slums reden. Das Produkt aus IFR und Durchseuchung ist dann vermutlich immer noch höher als bei vielen Infektionskrankheiten. Medien argumentieren ja gern auch mit absoluten Zahlen und eine IFR von 0.0825% bei einer Durchseuchung von 75% ergibt bei einer indischen Bevölkerung von 1.325 Milliarden immer noch 837‘000 Todesfälle.

Das klingt schlimm. Allerdings sterben in Indien jährlich 9.78 Millionen Menschen, nämlich 0.72% der Bevölkerung (in Deutschland sind es 1.15%, also 953‘000). Die Zahl der Todesfälle durch Atemwegsinfektionen betrug 2016 in Indien 495‘511, in Deutschland 22‘425. Die Grippewelle 2018 hat in Deutschland ohne viel Aufsehen zu einer Verdopplung dieser Zahl geführt. Das wäre also mit der IFR von Mumbai vergleichbar zu einer 75%igen Durchseuchung der indischen Bevölkerung mit Covid-19 innerhalb eines Jahres.

Nun ist auch die IFR von Land zu Land, möglicherweise sogar von Region zu Region verschieden. Wie übertragbar ist das Ergebnis? Eine ähnliche Studie ist in Delhi gelaufen und Schlussfolgerungen daraus sind in einem Preprint auf medRxiv verfügbar. In Delhi betrug die Seroprävalenz in den dort getesteten Gruppen 22.86%. Aus dieser Studie ergibt sich eine ähnliche IFR von 0.07-0.08%. Den Autoren der Studie auf medRxiv gefiel dieser Wert nicht so und sie nehmen deshalb unter Bezug auf einen kurzen Forbes-Artikel und weil anderswo in der Welt höhere Werte berichtet wurden, einfach mal so an, dass die Zahl der erfassten Todesfälle um einen Faktor 10 zu gering sei. Vergleicht man diese Art von Argumentation – an der immerhin Wissenschaftler der University of Michigan, Ann Arbor beteiligt sind – mit der Ernsthaftigkeit des Kolloquiums zum Mumbai SeroSurvey kann man auch Lehren über die gegenwärtige Vertrauenswürdigkeit der Wissenschaft in westlichen Ländern ziehen.

Bei aller Anteilnahme an der Slum-Bevölkerung von Mumbai wird die Leser eher interessieren, wie es in Europa aussieht. Die COVID-19 Case-Cluster-Study (Heinsberg-Studie) der Gruppe um Streeck hatte eine IFR von 0.36 % ermittelt (Konfidenzintervall 0.29 % bis 0.45 %). Die Genfer Serologie-Untersuchung, die in The Lancet Infectious Diseases veröffentlicht wurde, gibt den auf die Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung berechneten Wert von 0.32%, verschämt nur im Anhang an. Dieser Wert ist um die Häufung von Fällen in Altersheimen korrigiert, nicht deshalb, weil es sich wahrscheinlich um ein lösbares Problem handelt, sondern vor allem, weil es dort keine zuverlässigen Werte für die Seroprävalenz gibt, die also deutlich höher gewesen sein könnte als in der Gesamtbevölkerung.

Interessant an der Genfer Studie sind besonders die altersgruppenbezogenen Werte, die im Haupttext genannt werden. In der Altersgruppe von 20-49 Jahren beträgt die IFR 0.0092% (Konfidenzintervall 0.0042–0.016%), in der Gruppe von 50-64 Jahren 0.14% (0.096–0.19%) und darüber ist der Wert wegen des Altersheimproblems nicht zuverlässig. Man darf wohl sagen, dass unter Berücksichtigung der Altersstruktur in Mumbai die dortigen IFR-Werte konsistent mit der Genfer Untersuchung sind, ohne dass man Hypothesen wie eine geringere Prävalenz von Übergewicht und Diabetes in den Slums und ein möglicherweise robusteres Immunsystem der indischen Slumbevölkerung bemüht.

Schließlich kann man noch eine Obergrenze für die IFR erhalten, indem man die CFR ermittelt. Solange die Anzahl falsch positiver Tests in der Statistik nicht höher ist als diejenige unentdeckter Infektionen, kann die CFR nicht geringer sein als die IFR. Ich habe das für einen Zeitraum von zwei Monaten (14. Juni-13. August) getan, weil ich mit diesem langen Zeitraum auch für kleinere Länder noch statistisch einigermaßen valide Daten erhalte. Dabei habe ich einen mittleren Zeitraum von zwischen einer und zwei Wochen zwischen positivem Test und Todesfall angenommen. In der EU erhalte ich den niedrigsten Wert von 0.37-0.48% für Luxemburg, wobei allerdings das Konfidenzintervall 0.13-0.80% ist. Die Slowakei habe ich ausgeschlossen, weil es dort weniger als 10 Sterbefälle in den letzten zwei Monaten gab.

Die CFR für Deutschland liegt einschließlich des Konfidenzintervalls bei 1.18-1.72%. Bei der Schweiz muss man vorsichtig sein, weil die Sterbefallzahlen in den internationalen Tabellen durch Fehlmeldungen in den täglichen Situationsberichten des BAG überhöht sind (das gab es gestern schon wieder, der Kanton Bern hat den Fall dementiert). Deshalb habe ich auf das Tabellenwerk auf der BAG-Homepage zurückgegriffen, in dem diese Fehler korrigiert sind. Damit erhalte ich eine CFR von 0.32-0.87% (95% Konfidenzintervall).

Auf größere Länder lässt sich das Verfahren auch auf nur einen Monat anwenden. Vom 14. Juli - 13. August erhalte ich für Deutschland eine CFR von 0.74-1.21%. Insgesamt sind diese Daten mit der Genfer IFR-Abschätzung konsistent - allerdings nur, wenn die Dunkelziffer nicht erkannter Infektionen inzwischen relativ klein ist. Das erscheint wegen des Anteils asymptomatischer Infektionen etwas zweifelhaft. Ist die Dunkelziffer asymptomatischer Infektionen ähnlich hoch wie diejenige positiver Tests, so muss in einigen Ländern entweder die IFR niedriger sein als in Genf oder es gibt unter den positiven Tests einen erheblichen Anteil falscher.

Zum Schluss betrachte ich noch zwei Länder, die einen niedrigen mittleren Oxford-Strenge-Index aufweisen. Kontroverse Länder wie Belarus und Nicaragua und afrikanische Länder habe ich absichtlich nicht ausgewählt und die aktuellen schwedischen Daten (mittlerer OSI 40.46) hatte ich bereits in einer Kommentardiskussion gezeigt. Ich habe deshalb Japan (mittlerer OSI 35.58) und Finnland (46.44) ausgewählt (Deutschland 63.62, Schweiz 57.22). Die Daten sind in Abbildung 3 gezeigt. Zu sehen ist insbesondere für Japan, dass die Sterbefallzahlen durch Covid-19 immer weit unterhalb der mittleren Rate von Sterbefällen durch Atemwegsinfektionen 2016 lagen. Auch Finnland schneidet recht gut ab, was gern zugegeben wird, weil es ein Nachbarland Schwedens ist. Weniger gern wird darauf hingewiesen, dass das Land ähnlich wie Schweden eine recht leichte Hand bei den staatlichen Maßnahmen hatte.

Von diesen beiden Ländern ist Japan groß und testet viel. Für die CFR über die letzten zwei Monate ergibt sich ein Konfidenzintervall (95%) von 0.46-1.03%. In Finnland sind die Zahlen so klein, dass die Abschätzung unbrauchbar wird (0.37-2.39%).

Fazit

Wissenschaftler des Tata Institute of Fundamental Research in Mumbai, Indien werden vermutlich die ersten sein, die erkennen können, ob eine Herdenimmunität bei Covid-19 erreichbar ist. Das liegt einerseits daran, dass sie für diese Frage besonders gute Beobachtungsbedingungen haben, andererseits aber auch daran, dass sie eine sehr gut entworfene, vorurteilsfreie Studie ins Werk gesetzt haben. Auf das meiste, was zum Thema Covid-19-Epidemiologie an westlichen Universitäten getan wird, trifft die Bedingung sauberer und vorurteilsfreier Forschung nicht zu.

Was die anfangs aufgeführten Annahmen der indischen Regierung betrifft, so hat sich nur die erste als richtig erwiesen. Die Ausbreitung von Covid-19 in den Slums war in der Tat unkontrollierbar. Sie hat dort aber nicht zu einer auffälligen Sterbewelle geführt und damit auch nicht zu sozialen Unruhen oder Aufständen und nicht zu einer politisch unkontrollierbaren Situation.

Die Beobachtungen in Mumbai zeigen, zusammen mit den schwedischen Erfahrungen und der Genfer Studie, auch, dass eine Durchseuchungsstrategie kombiniert mit einem Schutz der Risikogruppen ein gangbarer Ausweg aus der Corona-Krise ist, der nicht notwendigerweise zu mehr Todesfällen durch Atemwegsinfektionen führen muss, als sie in anderen Jahren auch aufgetreten sind.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke