Nichts geht mehr

Politisches Roulette Der Westen hat auf die falschen Zahlen gesetzt.

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Politik ist ein Strategiespiel, in dem es notwendig ist, so weit wie möglich vorauszudenken und mit verschiedenen Varianten zu rechnen. Die Neigung westlicher Politiker, auf Sicht zu fahren und Politik als Glücksspiel zu betreiben, ist daher unpassend. Im Roulette, das ein reines Glücksspiel ist, setzt der Spieler auf bestimmte Zahlen, zum Beispiel auf gerade oder ungerade. Dafür hat er eine gewisse Zeit. Schließlich sagt der Croupier „Rien ne va plus“ – „Nichts geht mehr“ und lässt die Kugel rollen. Von diesem Moment an ist der Spieler dem Schicksal ausgeliefert. Einen solchen Moment kann es auch in der Politik geben. Nur ist dort die Gewinnwahrscheinlichkeit der geraden und der ungeraden Zahlen selten gleich. Mir scheint, dass die westlichen Politiker den Moment bereits verpasst haben, in dem der Croupier sprach. Die Kugel rollt und sie wird nicht bei einer Zahl landen, auf die unsere Seite gesetzt hat.

Selbst wenn noch eine Korrektur möglich sein sollte, ist sie nicht zu erwarten. Die öffentliche Diskussion im Westen ist alten Denkschemata verhaftet. Sie erkennt weder den Charakter dieses Krieges noch die Größe der Herausforderung. Politiker und Journalisten reden sich eine Überlegenheit ein, die nicht mehr besteht. Dadurch behindern sie das Nachdenken darüber, welche Richtungsänderungen nötig und möglich sind. Dass Politik die Kunst des Möglichen sei, gilt überhaupt als überholt. Das Unmögliche allerdings wird ganz sicher nicht geschehen.

Der hybride Krieg und wie es dazu kam

Einer der Irrtümer gegenwärtiger westlicher Politik ist derjenige, es gäbe einen Ukraine-Krieg, der sich auf dieses Land beschränken ließe. Russland führt seit dem 24. Februar einen hybriden Krieg gegen den politischen Westen. Der militärische Angriff auf die Ukraine ist nur ein Aspekt dieses hybriden Kriegs, dessen wirtschaftliche Komponente ungleich wichtiger ist. Mit diesem Angriff hat Russland eine Situation geschaffen, auf die der Westen reagieren musste. Putin wusste dabei sehr wohl, dass der Westen unkoordiniert reagieren würde und auf eine Weise, die vor allem dem Westen selbst schadet.

Wie man den Charakter dieses Krieges einschätzt, hat erhebliche Auswirkungen darauf, welche Strategie man für richtig hält. Würde es sich um einen reinen Krieg um die Ukraine handeln, dann hätte Russland Interesse an einem schnellen militärischen Sieg gehabt. Das Narrativ einer Fehlkalkulation Putins wäre glaubhaft. Handelt es sich hingegen bei dieser militärischen Auseinandersetzung nur um einen Teilaspekt eines größeren Angriffs auf den gesamten Westen, dann liegt das russische Interesse darin, möglichst viele westliche Ressourcen zu binden und zu vernichten. In einem solchen Szenario wäre ein schnelles Ende der militärischen Auseinandersetzung aus russischer Sicht unvorteilhaft.

Ich will nicht bezweifeln, dass es auf westlicher Seite, insbesondere in den USA, Strategen gab, die diese Situation erkannt hatten. Das Angebot, Selenskyj sehr bald nach Kriegsbeginn aus Kiew ins Ausland zu evakuieren, spräche dafür. Die russische Seite hatte jedoch die ukrainische Reaktion besser vorausgesehen. Sie hatte auch bessere Möglichkeiten, diese Reaktion zu steuern. Richtig berechnet hatte Putin auch, dass der Westen die Ukraine nicht fallen lassen konnte, sofern dieser Fall nicht sehr schnell erfolgen würde. Der Westen wurde tief in den Konflikt hineingezogen, ohne dass Russland in den ersten drei Monaten von sich aus irgendwelche eskalierenden Schritte dem Westen gegenüber tun musste. Es genügte, westliche Eskalationsschritte auf gleichem oder sogar etwas niedrigerem Niveau zu beantworten. Der Westen, der das Szenario einer langen Auseinandersetzung nicht erwartet hatte, war auch nicht darauf vorbereitet. Er reagierte konfus. Interessengegensätze traten zutage. Bis heute hat der Westen keine Maßnahmen ergriffen, die wesentlich über Symbolpolitik hinausgehen. Diese inadäquate Reaktion war leicht vorherzusagen. Seit mindestens einem Jahrzehnt ist westliche Politik in ihrem Wesen Symbolpolitik. Die gesamte politische und mediale Klasse ist in diesem Denk- und Handlungsschema gefangen. Sie pflegt ein Gruppendenken, das besser mit Gruppengedankenlosigkeit bezeichnet wäre.

Die bisherigen Betrachtungen erklären, wie Putin zu der Ansicht gelangen konnte, Russland könne aus einer an sich wirtschaftlich unterlegenen Position heraus einen hybriden Krieg gegen den Westen bestehen und sogar gewinnen. Sie erklären aber nicht, warum Putin diesen Krieg für vorteilhaft hielt. Ein solcher Krieg muss ja auch für Russland zu wirtschaftlichen und militärischen Verlusten führen. Dass er in der zweiten Februarhälfte nach Abwägung aller Umstände diesen Krieg als vorteilhaft ansah, sollte jedoch unstrittig sein. Anderenfalls hätte Putin, der sich selbst als großen Strategen ansieht, den Krieg nicht begonnen. Vor allem muss er das relativ schnelle Ende des Erdöl-, Erdgas- und Kohlegeschäfts mit dem Westen einkalkuliert haben. Das ergibt sich schon daraus, dass Russland im Vorfeld des Krieges eine Strategie verfolgt hat, die zu niedrigen Erdgasreserven in westlichen Speichern führte und dass Russland inzwischen beim Erdgas selbst das Tempo des Ausstiegs aus dem Geschäft diktiert.

Damit brach Putin mit einer Wirtschaftsstrategie, die von der Sowjetunion und Russland über mindestens 50 Jahre mit guten Ergebnissen verfolgt wurde. Warum? Die Antwort darauf ist relativ einfach. Diese Wirtschaftsstrategie hatte ohnehin keine Zukunft mehr, nachdem Westeuropa sich entschlossen hatte, über einen Zeitraum von weniger als zwei Jahrzehnten den Import fossiler Energieträger einzustellen. Russland hätte dieses Geschäft schleichend und zu den Bedingungen des Westens verlieren könnten oder es konnte das Geschäft zu eigenen Bedingungen herunterfahren und zu einem günstigen Zeitpunkt neue Abnehmer finden. Das einzige Problem mit einem Herunterfahren zu eigenen Bedingungen war, dass Russland damit das Signal gegeben hätte, kein zuverlässiger Lieferant zu sein. Das wiederum hätte den Abschluss langfristiger Verträge mit anderen Abnehmern erschwert. Dieses Problem hat der Westen für Putin gelöst, indem er seinerseits im Rahmen von „Sanktionen“ vertragsbrüchig wurde. Das ist allerdings nur ein Schönheitsfehler der westlichen Strategie. Der kapitale Fehler liegt darin, zu glauben, dass sich der Westen den Abbruch dieser Geschäftsbeziehung ebenso gut wie Russland oder sogar besser als dieses leisten könne. Hier wird die zentrale Lebenslüge des westlichen Zeitgeists berührt, die Behauptung, man könne in absehbarer Zeit auf fossile Kohlenstoffquellen verzichten. Darauf komme ich weiter unten zurück. Zunächst müssen wir einen weiteren Aspekt des hybriden Kriegs diskutieren.

Die Ukraine als Last

Eine weitere Fehleinschätzung westlicher Politiker und Journalisten ist die Annahme, Putin wolle die gesamte Ukraine annektieren oder doch zumindest deren EU- und NATO-freundliche Regierung durch russische Marionetten ersetzen. Wer das annimmt, vergisst, dass die Ukraine ein weitgehend gescheiterter Staat ist, der weder unter westlich gesinnten noch unter russlandfreundlichen Präsidenten und Regierungen je auf einen grünen Zweig gekommen ist. Die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine und die Identifikation eines erheblichen Teils der Bevölkerung mit diesem Staat in der Situation eines Verteidigungskriegs widersprechen dieser Einschätzung nicht. Dass Kriege zunächst einmal die Regierung stützen, gehört zum politischen Einmaleins. Die Situation wird klarer, wenn man sie aus westlicher Sicht betrachtet.

Die Ukraine kann gegenwärtig ihre laufenden Staatsausgaben, sogar abzüglich des Ersatzes zerstörter Waffen, nicht decken. Das verwundert nicht. Sie kam schon vor dem Krieg immer nur knapp über die Runden. Der russische Angriff hat nach Eigenaussagen der Ukraine die Wirtschaftsleistung etwa halbiert. Politisch ist es unmöglich, dass der Westen die Ukraine während des Kriegs oder kurz danach bankrottgehen lässt. Formell hat der Westen zwar keine Verpflichtung, die Ukraine zu verteidigen oder finanziell über Wasser zu halten. Nach allem, was geschehen ist und an Propaganda verbreitet wurde, würde eine Aufgabe der Ukraine jedoch sowohl gegenüber den Bevölkerungen West- und Mitteleuropas als auch gegenüber der Weltöffentlichkeit zu einem kompletten Gesichtsverlust führen.

Dadurch hat die ukrainische Führung den Westen in der Hand. Sie kann lange Waffenwunschlisten schreiben, obwohl sie nicht zahlen kann. Sie kann sich empören, dass ihr nur ein Teil des Gewünschten geschenkt wird. Sie kann ihre liquiden Mittel verausgaben, ohne einen Staatsbankrott befürchten zu müssen. Wacheren Journalisten sowie dem ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Conte und großen Teilen seiner 5-Sterne-Bewegung ist das bereits klargeworden. Was kaum jemandem aufgefallen ist - oder doch zumindest nicht in der Öffentlichkeit diskutiert wird - ist der folgende Umstand. Genau dadurch kann auch Russland westlichen Politikern die Hand führen. Putin hat den Westen in einen Stellvertreterkrieg hineingezogen, ohne eine militärische Auseinandersetzung mit der NATO fürchten zu müssen. Der Westen hat jedoch keine Wahl. Er muss weitgehend die Verteidigungsanstrengungen der Ukraine finanzieren sowie nach dem Krieg deren Stabilisierung und den Wiederaufbau aller Gebiete, die Russland nicht einnimmt oder wieder aufgibt. Diese Kosten des Westens sind Teil von Putins strategischem Kalkül. Daraus folgt, dass Russland ein Interesse daran hat, dass nach dem Krieg eine militärisch und wirtschaftlich sehr geschwächte Ukraine mit einer westfreundlichen Regierung weiter existiert. Der vorhersehbare Wunsch dieser Regierung nach militärischer Revanche wird die Situation des Westens nach dem Krieg zusätzlich erschweren.

Der Thunberg-Test

Greta Thunberg ist vor allem für ihre Forderung bekannt, sofort aus der Nutzung fossiler Energieträger auszusteigen. Als sie das erstmals auf großer Bühne verlangte, gab es gar nicht genug Sicherheitskräfte, um all die Politiker, Journalisten und Wirtschaftsbosse von ihr fernzuhalten, die sich an ihren Hals werfen wollten. Keiner von diesen nahm natürlich ernsthaft an, dass diese Forderung umgesetzt würde, aber als schicke Symbolpolitik machte es sich sehr gut, darauf einzugehen. Nun erleben wir den Thunberg-Test. Er wird aller Voraussicht nach katastrophal verlaufen.

Der erste Irrtum des Ausstiegsszenarios besteht darin, zu glauben, es ginge nur um fossile Energieträger und nicht tatsächlich um fossile Kohlenstoffquellen. Weder Stahl noch Chemieprodukte lassen sich auf absehbare Zeit ohne solche Kohlenstoffquellen produzieren. Die Stahlproduktion beruhte in ihrer anfänglichen Entwicklung auf nachwachsenden Rohstoffen, nämlich auf Holzkohle. Man kann leicht ausrechnen, dass es zu einer ökologischen Katastrophe führen würde, den heutigen Stahlbedarf der Welt auf diese Weise decken zu wollen. Dieser Rohstoff wächst so schnell nicht nach, wie er verbraucht werden würde. Auch die chemische Industrie lässt sich nicht zu mehr als einem kleinen Bruchteil auf nachwachsende Rohstoffe umstellen. Schrumpfen jedoch Stahl- und Chemieproduktion in einem kurzen Zeitraum drastisch, so ist ein Zusammenbruch der technologischen Zivilisation unausweichlich.

Der zweite Irrtum des Ausstiegsszenarios ist der Glaube, eine Art der Elektroenergieerzeugung sei so gut wie die andere, wenn nur genauso viel Strom zur Verfügung stünde. Kurz gesagt gibt es Wärmekraftwerke und andere Methoden der Stromerzeugung. Wärme fällt an, wenn man Strom durch Kernspaltung oder durch das Verbrennen organischer Stoffe erzeugt. Sieht man von Hausmüll und Abfallprodukten der Holzverarbeitung ab, erfordert Letzteres den Einsatz fossiler Kohlenstoffquellen. Thermodynamisch gesehen ist ein Wärmekraftwerk zur Stromerzeugung zwar ein Verlustgeschäft. Der Wirkungsgrad ist durch die höchste Temperatur begrenzt, welche die eingesetzten Baumaterialien vertragen. Er liegt immer weit unter 100%. Das stellt aber zumindest im Winter und in Ländern der gemäßigten und noch kälterer Zonen kein Problem dar, weil die Abfallwärme benötigt wird. Durch Kraft-Wärme-Kopplung steht gleichzeitig Heizenergie zur Verfügung. Schaltet man diese Kraftwerke ab, muss man die Heizenergie anderweitig bereitstellen oder in sehr kurzer Zeit sehr viele sehr gute Daunenschlafsäcke produzieren. Das ist einer der Hintergründe der deutschen Strategie, den Ausstieg aus Kernenergie und Kohleverstromung durch Gaskraftwerke als „Brückentechnologie“ zu kompensieren. Diese Strategie ist Ende Februar grandios gescheitert. Längerfristig wollte man die Heizleistung wohl hauptsächlich durch Wärmepumpen bereitstellen. Thermodynamisch ist das eine gute Idee, denn Wärmepumpen kehren den Prozess des Wärmekraftwerks um. Sie haben daher einen Wirkungsgrad von über 100% - es wird mehr Wärme erzeugt als man Elektronenergie hineinstecken muss. Nur wäre diese Umstellung schon im ursprünglich geplanten Zeitraum nicht zu schaffen gewesen. Wenn die russische Regierung entscheiden kann, wie schnell sie erfolgen muss, wird es hier wohl sehr kalt in den Wohnungen werden. Um das zu vermeiden, müsste man Industrien abschalten oder einschränken, deren Produkte die Grundlage für andere Industrien sind, deren Produkte die Grundlage für noch weitere Industrien sind usw. usf.

Der dritte Irrtum des Ausstiegsszenarios war, dass man bis 2035 so viel Kapazität zur Erzeugung erneuerbarer Energien würde aufbauen können, dass dadurch all die herumgereichten Ausstiege aus anderen Technologien kompensiert würden. Das wäre schon mit den vorhandenen Planern, Ingenieuren, Bauleuten und Materialressourcen nicht möglich gewesen. Der Westen befindet sich aber in einem Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung, in dem, salopp gesagt, Fachkräfte jeder Art durch Soziologen, Politikwissenschaftler und Aktivisten vom Schlage Gretas ersetzt werden. Die letzten drei Kategorien erzeugen zwar relativ viel heiße Luft, aber eben nur im übertragenen Sinne. Der Thunberg-Test wäre daher in jedem Falle gescheitert. Im Zeitraum bis 2035 wären die Folgen wohl noch einigermaßen erträglich gewesen. Dieser Zeithorizont hat sich nun um etwa 10 Jahre verkürzt. Rien ne va plus.

Konnte man das vorhersehen? Aber ja doch. Ingenieure haben immer wieder darauf hingewiesen, kommen aber unter Politikern und Journalisten nicht vor. Das muss ich präzisieren. Ingenieurtechnisches Denken ist in der westlichen öffentlichen Diskussion weitgehend abwesend. Russland, China und Indien haben nie daran geglaubt, dass man kurz- oder mittelfristig auf fossile Kohlenstoffquellen verzichten könnte. Im Juni 2022 hat Russland Saudi-Arabien als größter Erdöllieferant Indiens abgelöst. Für die freiwerdenden Kapazitäten Russlands bei der Förderung von Kohle, Erdöl und Erdgas gibt es genügend Abnehmer auch zu hohen Preisen. Für den Bedarf Westeuropas gibt es jedoch nicht genug Lieferanten, schon gar nicht zu den Preisen, zu denen Russland liefern konnte. Zusätzlich entsteht Anpassungsbedarf in der Infrastruktur und den Produktionsprozessen. Für eine schnelle Anpassung fehlen Fachkräfte.

Alles Bio oder was?

Es ist sehr wahrscheinlich, dass Teile Afrikas vor einer Hungerkrise stehen. Dafür gibt es verschiedene Gründe, zu denen auch eine falsche Politik in der Corona-Epidemie zählt. Der im Westen fast ausschließlich diskutierte Grund ist der Teilausfall ukrainischer Getreideexporte, der wiederum höchst ungern auf die Verminung ukrainischer Exporthäfen durch die Ukraine selbst zurückgeführt wird. Warum laufen dann Afrikaner mit russischen Fahnen auf die Straße? Vermutlich deshalb, weil sie besser rechnen oder klarer denken können als westliche Medienschaffende. Die ausfallenden ukrainischen Mengen sind nur ein Bruchteil der international gehandelten Getreidemengen. Zudem lebt auch Afrika zum großen Teil von der Eigenproduktion von Nahrungsmitteln. Die allerdings wird teurer, weil Mineraldünger teurer werden. Diese Teuerung wiederum ist durch westliche Sanktionen gegen Russland und Belarus bedingt. Deshalb laufen Afrikaner mit russischen Fahnen auf die Straße.

Hier wird eine weitere Lebenslüge des westlichen Zeitgeistes berührt. Mineraldünger schlecht, Bio-Bio gut. Mineraldünger schlecht, Bio-Bio gut. Ja, ich paraphrasiere hier Orwell. Bio-Bio in vegetarisch noch besser und Bio-Bio in vegan überhaupt am besten. Nur, dass es dann nicht einmal mehr Mist und Gülle zum Düngen gibt. Das, was wir gern als Ökolandwirtschaft bezeichnen, wurde über Jahrhunderte betrieben – wenn auch wenigstens noch als Kombination von Ackerbau und Viehzucht. Diese Art zu wirtschaften wurde abgelöst, weil die Erträge und die Arbeitsproduktivität niedrig sind. Diese Abkehr hat man einmal als „grüne Revolution“ bezeichnet und sie hat weite Gebiete der Welt von Hunger befreit. Freilich wuchs dann auch die Bevölkerung, zumal der wissenschaftliche, medizinische und technologische Fortschritt auch noch die Kindersterblichkeit senkte. Das wiederum führte zu anderen Problemen. Nur dünkt mir, dass diese anderen Probleme weit weniger gravierend sind als eine hohe Kindersterblichkeit und wiederkehrende Hungersnöte. Es könnte sein, dass die Freunde der Ökolandwirtschaft nun auch im Weltmaßstab wenigstens teilweise schneller ihren Willen bekommen, als es vor dem Februar 2022 möglich erschien. Das Ergebnis, fürchte ich, wird nicht sehr schön aussehen.

Vom begrenzten Nutzen der Propaganda

Es gibt natürlich Gründe, Symbolpolitik zu betreiben. Wenn alle schon alles haben, werden Wahlkämpfe nicht durch die besten Vorschläge gewonnen, sondern durch die beste Propaganda. Symbolpolitik bemisst den Nutzen einer politischen Aktion nach ihrem Propagandawert. Das Problem mit Propaganda ist, dass sie nichts an der Realität ändert. Sie funktioniert gut, so lange die Realität sich gut anfühlt. Aller Voraussicht nach kann Russland aber eine Situation erzeugen, in der sich die Realität in Westeuropa gar nicht mehr gut anfühlen wird – und das in einem Grade, gegen den die Dystopien Houellebecqs blass erscheinen werden. Man müsste also zu einer Politik zurückkehren, die sich um Realitäten kümmert, statt um Wunschbilder. Jedoch, gerade auch in der Politik fehlen uns die Fachkräfte. Dort finden sich vermehrt Leute in hohen Positionen, die gar keinen Berufsabschluss haben. Rien ne va plus.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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