Liebe geht durch die Neiße

Geschichte Ein Gespräch mit meiner Tante

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Früher?

Wenn Oma oder Opa von "Früher" erzählt haben, wurden die Ohren gespitzt. Das war nicht oft, zu selten.

Im Flur hing ein Bild von der Schneekoppe.

heute
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Wo stammen wir her? Was war im Krieg, mit Liebe, Heimat, Leben, Flucht?

Geschichten, Wege übers Land und durch den Fluss gehen verloren.

Urnen werden schweigen, endgültig.

Ich frage meine Tante, über 8zig, ältere Schwester meines Vaters.

Geschichten aus dem Riesengebirge, aus Schmiedeberg, das heutige Kowary in Polen.

Alte Postkarte
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1945. Erzählungen über Bomber über dem Riesengebirge, Tiefflieger, das Zischen der Geschosse, das letzte Aufgebot im Volkssturm, das ermüdende Arbeiten beim Bauern, den Blick auf Zwangsarbeiter, Sprengung der Eisenbahnbrücke in Hirschberg, den Einzug der Russen ("Die Mongolen kommen!") und Polen, Verhaftung der Nazis, eine SS-Uniform, die nur eine Feuerwehruniform ist, eine Brennschere, mit der eine Uniformierte der Roten Armee ihre Locken bekam, eine Madonna, vor der polnische Soldaten stoppten, einen blonden sowjetischen Offizier, der einem dunklen Soldaten beim Vergewaltigungsversuch einen Tritt versetzte...

1947 ist meine Tante noch nicht 20, verliebt in Kazimierz, einen Polen. In jenem Jahr muss die ganze Familie ihre Heimat verlassen. Polen wurde nach Osten verschoben. Menschen schieben mit, werden geschoben.

In Forst wird alles entlaust. Nackt wird nicht unterschieden, ob Mann oder Frau, jung oder alt. An der Grenze ist alles grenzenlos.
Ins Übersiedlerlager auf die Moritzburg in Zeitz. Katastrophale hygienische Zustände.

Die Eltern der Familie finden Arbeit durch den Tagebau.

Für meine Tante war es ein Schock. Vom Riesengebirge in das Tagebauland? Und dann noch schwanger von Kazimierz. Sie hätte das Kind aufgeben können, problemlos, mit einem Hinweis auf "Vergewaltigung". Doch sie wollte es nicht.

"Es war doch meine große Liebe!"

Später macht sie sich auf nach Görlitz. Heimlich nimmt sie ihre ganzen Sachen mit. Sie wird bei Görlitz durch die Neiße gehen, mit einer Freundin. Ein Schleuser zeigt ihnen den flachen Weg durch das Wasser. Sie laufen konzentriert immer einem Orientierungspunkt entgegen. Am polnischen Ufer warten schon die Grenzer, es wird geschossen, wieder ein "Schutzengel". Sie werden nicht getroffen, aber verhaftet und müssen tagtäglich am Gefängnis arbeiten.

heutiger Blick über die Neiße nach Polen
http://www.altstadtbruecke.de/bildertest/webcam/webcam2.jpgEin Brief an Kazimierz, heimlich verschickt. Wochen später ein Treffen, nur wenige Stunden. Wieder ein "Schutzengel", eine alte Frau, die dafür sorgt, dass das Gefängnis verlassen werden kann. Geld muss aufgetrieben werden, um mit der Bahn zu Kazimierz zu fahren.

Endlich bei Kazimierz. Nun müssen Papiere besorgt werden, um in Polen für immer bleiben zu können. Wieder werden tausende Złoty benötigt, um einen Rechtsanwalt bezahlen zu können. Nach Warten und Bangen kommt die ernüchternde Ablehnung. Zurück nach Deutschland. Ein Muss!

Der Vater ist außer sich. Er verlangt in aller Konsequenz den Abbruch der Beziehungen nach Polen und zu Kazimierz. Die Familie sammelt sich wieder im Tagebauland.

Kazimierz wird Vater. Er wird sein Kind nie sehen. Es gibt keine Briefe, keinen Kontakt, wie dem Vater versprochen.
Kazimierz stirbt früh. Das Radon aus dem Schacht am Riesengebirge hat alle zeitig geholt.

Erst nach der Visafreiheit zwischen der DDR und Polen wird die alte Heimat wieder besucht. Dann öfter.

Die Tochter von Kazimierz hat schon Jahrzehnte eine polnische Freundin in Kraków.

Meine Tante hat ihre Geschichte aufgeschrieben. Filmreif.

Aber erst nach ihrem Tod will sie alles erzählen lassen.

Wenn Liebe durch die Neiße geht. Am Magen vorbei.

Es gab zum Mittag "Klißlan", die Liebenden haben sich "viergescherrt". Das Schlesische Vokabular der Großeltern.
http://kyf.net/freitag/utb.php?d=25.07.2012

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gustlik

aufgedacht und nachgeschrieben

Gustlik