Kleine Oasen

Seit einigen Monaten bekommen wir, meine Frau und ich, Videopost aus dem fernen Amerika. Genauer gesagt kommt die Post von einer kleinen Insel, die unmittelbar vor der Küste des Staates Washington liegt. Dort lebt Mary,37 und ihres Zeichens Klavierlehrerin. Sie lebt dort in einem offenbar wunderschönen und wirklich romantisch gelegenem Haus mit ihrem als Folge eines Unfalls im Rollstuhl sitzenden Mann, zwei Hunden und sechs Katzen. Die sind schon mal in dem einen oder anderen Video als stumme Zaungäste ihres Klavierspiels zu sehen; manchmal rekelt sich eine der Katzen auf dem Flügel,während Mary spielt.

Wir sind zufällig, beim Stöbern in youtube, auf Marys musikalische Botschaften gestossen und haben sie dann gleich abonniert. Hin und wieder wandern mails zwischen Mary und Andrea über den grossen Teich. Es ist schön und auf eine für mich schwer näher zu erklärende Art eigenartig zugleich, kleine, fast regelmäßige Einblicke in das Leben und Tun eines Menschen zu bekommen, der tausende von Kilometern weg von einem wohnt, den man wahrscheinlich nie im Leben persönlich sehen wird und der einem über die Musik und ihr youtube-Gesicht doch auch nahe gerückt ist.

Die Musik: meistens kurze Stücke, Miniaturen gewissermaßen, von der Klassik über Gospel - Mary war bis vor kurzem in einer Kirchengemeinde engagiert - sie sind für mich kleine hörenswerte Oasen im Alltag, die mich die Guttenbergs, Merkels, die Dramen der Finanzkrise, die ja mehr ein Drama und Versagen der Politik ist, für Minuten vergessen. Ich vermag Marys Klavierspiel im Detail nicht zu beurteilen, ich bin Klassikliebhaber, aber von echter Kennerschaft doch recht weit entfernt, aber ich kann sagen: gefällt mir oder gefällt mir weniger, hört sich besonders gut gespielt an.

Nach der täglichen Durchsicht im Internet was der Spiegel, die Süddeutsche, der Freitag und wer sonst noch zu bieten hat, bin ich immer froh, wenn ich angezeigt bekomme, dass etwas Neues von Mary eingetroffen ist. Sicher, ich kann auch eine unserer unzähligen CD‘s hören, aber das ist etwas anderes. Hier sind es Darbietungen von jemandem, den man ein bisschen zu kennen, an dessen Leben man ein klein wenig teilzunehmen meint, für den man sich interessiert.

Wenn Mary vor oder meistens nach ihrem Spiel für ein, zwei Sekunden in ihre Kamera blickt und freundlich lächelt, kommt es mir wie ein Gruss an ihre derzeit knapp 150 oder 200 Freunde vor, von denen die meisten in den Staaten beheimatet sind. Manchmal bin ich von ihrem Spiel abgelenkt und erfreue mich etwa an den über den Deckel des Flügels so eben herausragenden Katzenohren. Dass sie eine so große Katzenfreundin ist, machte sie uns gleich sympathisch. Oder ich sehe mir via google earth ihre Umgebung an und beneide sie um ihr idyllisches Wohnen, das, so denke ich mir, vielleicht eine Entschädigung für ihr nicht nur einfaches Leben ist.

Und dann bin ich dem Internet, das mich mit seiner Oberflächlichkeit, den sehr oft platten bis dämlichen Kommentaren in diversen Foren nervt, dankbar, dass es eben auch so etwas darin zu finden gibt: kleine Oasen, Momente des Glücks und mitunter eben auch Einblicke in fremde Leben ermöglicht, die berühren und frei von dümmlicher Eitelkeit und Protzgehabe sind.Und wenn es dann auch noch selbst gespielte schöne Musik zu hören gibt...!

Wir haben uns schon einige Male über Mary und ihr Leben, ihre Engagements, ihren Mann, ihre Tier- und Katzenliebe unterhalten, allerlei Spekulationen angestellt, uns mal ein wenig voyeuristisch, wie gesagt, die Umgebung ihres Domizils angeschaut und uns dabei gewundert, dass und wie da plötzlich jemand auf eine gewisse Art auch in unser beider Leben geschneit ist und unsere Welten verbindet.