Rente mit 67 - Humanisierung der Arbeitswelt; fragment. Überlegungen

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Jetzt tönt sogar der große Populist und Opportunist Horst Seehofer wider die Rente mit 67, der ihr, wohl sei es erinnert, zuvor zugestimmt hatte. Und Andrea Nahles will sie jetzt zumindest ausgesetzt wissen, was dann wieder für die SPD nicht untypisch ist: ein bisschen Abkehr, ohne gleich grundsätzlich zu werden, so weit reicht der Mut denn doch nicht. Es ist immer wieder schön und anödend zugleich, das Polittheater zu erleben. Eigentlich handelt es sich dabei immer um ein und dasselbe Stück in leichten Variationen, ab und zu tauchen nur neue Saisonkräfte als Darsteller auf.


Über grundsätzliche Fragen wird auf dieser Bühne so gut wie nie diskutiert. Warum auch, heißt doch das neue politische Zauberwort „alternativlos“. Wie selbstverständlich wird von noch nicht einmal offen ausgesprochenen bzw. hinterfragten Grundannahmen ausgegangen. Zum Beispiel, dass unser Renten- und Beitragssystem im Prinzip so sein und bleiben müsse wie es ist: dass längst nicht alle Erwerbstätigen darin einzahlen, dass nicht alle Einnahmen zur Beitragsbemessung herangezogen werden, also etwa Miet- und Zinseinnahmen etc. Die offizielle Politik benennt gar nicht, dass nur eine Minderheit der arbeitenden Bevölkerung darin einzahlt. Ganze Berufsgruppen haben eigene Versorgungswerke und Gutverdiener können sich dank der unsinnigen Beitragsbemessungsgrenze auch aus ihr absentieren; Ärzte, Anwälte, Architekten, Politiker, Beamte etc. müssen nicht in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen. Dass das so ist (und bleiben soll) scheint unter den derzeit herrschenden Politkern und den Parteien Konsens zu sein. Das ist eine der nicht ausgesprochenen Grundannahmen, die nur einzelne Querdenker und Sozialpolitiker hinterfragen, die im Konzert der meinungsführenden Stimme aber keine große Rolle spielen (dürfen).

Darüber hinaus hat es kein Politiker bisher glaubhaft und überzeugend geschafft hat, die Einführung einer privat organisierten Altersvorsorge als Ausdruck sozialpolitischer Vernunft zu erläutern. Sinnvoll war und ist die nur für die Versicherungskonzerne und Leute wie Herrn Maschmeyer, die sich über dieses Geschenk von Schröder, Riester und Fischer diebisch gefreut haben dürften. Das solchermaßen in deren Policen investierte Geld ließe sich ebenso in die gesetzliche Versicherung abführen, die einen ungleich niedrigeren Verwaltungsaufwand hat und somit für die Versicherten lohnender wäre.

Gäbe es eine einheitliche Pflichtversicherung für alle, erhöhte man die Beitragsbemessungsgrenze, würden Kapitaleinkünfte mit einbezogen, dann sähe es, sagen Experten, mit der Rentenkasse anders aus. Doch alle diese Vorschläge werden von den neoliberalen Gralsrittern aller Parteien gefürchtet wie der Knoblauch von Vampiren.

Und etwas anderes, in dem Zusammenhang Wichtiges, wird, zumindest von der Berliner Politik, kaum thematisiert: dass viele Menschen und beileibe nicht nur jene, die in körperlich belastenden Berufen arbeiten, nicht einmal bis 65 arbeiten können. Wer etwa eine sog. Erwerbsminderungsrente bezieht, weil es mit dem Arbeiten nicht mehr geht, muss ebenso Abschläge - und zwar dauerhaft über das Erreichen der Regelaltersgrenze hinaus ! - hinnehmen, wie ein Gutverdiener, der es sich einfach leisten kann und will, eher aufzuhören. Und gerade hier sind sehr viele geringe Renten anzutreffen.


Darüber wie die Arbeitswelt aussieht, wird heutzutage außer mit ein paar hohlen Phrasen nicht wirklich gesprochen. Politiker ergehen sich allenfalls in Sätzen wie: “Wir müssen sehen, dass es mehr Stellen für Ältere gibt“ und ähnlich Unverbindlichem. Aber über konkrete Arbeitsbedingungen, über eine Humanisierung der Arbeitswelt wird kaum mehr gesprochen, jedenfalls nicht von den politisch Herrschenden. In den 70er Jahren war das ein vergleichsweise großes Thema. Ganze Buchreihen beschäftigten sich damit. Der Soziologe Oskar Negt brachte damals schon mehrere Bände dazu heraus, Tagungen zu dem Thema fanden statt, auch und gerade von den Gewerkschaften war in jener Zeit einiges dazu vernehmen - heute ist von auch von deren Seite, jedenfalls deutlich vernehmbar, nicht viel zu hören.


Zu bestreiten ist nicht: Vieles ist seitdem besser, sprich: humaner, weniger belastend geworden, was aber zu einem großen Teil am weitgehenden Verschwinden schwerer körperlicher Industriearbeit liegt. Hierarchien sind vielfach flacher, Arbeitsabläufe verträglicher gestaltet worden. Andererseits verzeichnen viele Berufe eine unglaubliche Arbeitsverdichtung, die die Belastung steigert. Krankschreibungen aus psychischen Gründen haben drastisch zugenommen, Erschöpfungssyndrome ebenso, auch wenn nicht alles ein burn-out ist, wie vielfach gesagt wird. (Ich habe es in meinem Beruf als Suchttherapeut in einer stationären Einrichtung über einen Zeitraum von 20 Jahren erfahren, wie die Verwaltungs- und Dokumentationsarbeit zusehends erhöht wurde: bei gleichbleibenden, zeitweilig gestiegenen Patientenzahlen pro Stationsgruppe, aber gesteigerten Anforderungen an die Behandlung u.a.m. Für andere Bereiche des Gesundheitswesens, etwa die Krankenhäuser, gilt das in einem noch weit schärferem Ausmaß!)

Heutzutage gilt die Devise der Politiker: Hauptsache Arbeit, egal wie sie aussieht, egal wie sie entlohnt wird. Nicht zufällig wurden die Zumutbarkeitsregeln für eine Arbeitsaufnahme von Arbeitslosen seit den 90ern kontinuierlich verschärft.

Hilmar Schneider, Direktor des Bereichs Arbeitsmarktpolitik beim von der Wirtschaft gesponserten „Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit“ sagte es in diesen Tagen in aller Offenheit in einer Sendung des WDR5-Hörfunks : Man müsse sich schon entscheiden, was man haben wolle: „Arbeit oder Gesundheit.“ Man muss dem Mann ja fast dankbar sein für seine Unverschämtheit, wird er dadurch doch erkennbar.


Einige Daten, entnommen den von Albrecht Müller herausgegebenen „Nachdenkseiten vom 22. 01.2010:

- Die Zahl der Vollzeitbeschäftigten wurde zwischen Juni 1999 und Juni 2008 um 1,4 Mio reduziert, auf nunmehr 22,4 Mio

- die Zahl der befristeten Stellen stieg auf über 4 Mio an

Teilzeitbeschäftige insgesamt: 36 Prozent

- Mini-Jobs stiegen in sechs Jahren um 29% auf 6,5 Mio an

- Die Zahl der Menschen mit 2 Jobs hat sich zwischen 2002 und 2007 haben auf 1,8 Mio verdoppelt

  • Die Leiharbeit hat sich von 2005 bis 2008 auf mehr als 700 000 verdoppelt (Lohnabstand durchschnittlich zum regulären Lohn: 29%)

Treffend bilanziert Walter Edenhofer in besagtem „Nachdenkseiten“-Beitrag: “Die Erwerbsarbeit, einst die wichtigste Grundlage für die soziale Sicherheit und Wohlstand, hat sich von einem Instrument gesellschaftlicher Integration und Stabilität zu einem Instrument sozialer Ungleichheit entwickelt. Das gilt für die Arbeitsverhältnisse, für die Entlohnung und auch für die Arbeitsbedingungen.“ Und diese von den nüchternen Zahlen skizzierte Entwicklung hat natürlich auch Auswirkungen auf die Qualität der Arbeitsbedingungen und führt in der Tendenz zu einer Enthumanisierung der Arbeitswelt.

Das heißt, bevor überhaupt über eine generelle Verlängerung der Lebensarbeitszeit nachgedacht werden dürfte, müsste das Projekt einer umfassenden Humanisierung der Arbeitswelt weiter und wieder neu angegangen werden. Und zwar gesellschaftlich, politisch, überbetrieblich und in jedem Betrieb, egal ob im Büro eines Großkonzerns, eines Rathauses, den Jobagenturen oder wo sonst noch. Hier haben die einzelnen Unternehmen und Behördenleitungen eine Bringschuld, die Wissenschaft, aber auch und gerade die Politik. Die Rentendiskussion ist nicht ohne den Zusammenhang mit dem Stichwort ,Humanisierung der Arbeitswelt‘ sinnvoll zu führen.

Ungeachtet dessen wird es immer aus vielerlei individuellen Gründen Menschen geben, die in ihren Berufen nicht bis 65 arbeiten können. Sie mit horrenden Abschlägen zu bestrafen und vielfach in die Altersarmut zu drängen, ist sozialpolitischer Frevel. Wiewohl es natürlich auch Menschen gibt, die über 65 hinaus arbeiten wollten und könnten und daran vielfach, außer in einigen Berufen, gehindert werden. Da hat Enzensberger in seinem dieser Tage publizierten Spiegel-Essay recht, wer das will, soll das tun dürfen, aber eben nicht müssen. Der Trend bei vielen Firmen geht indes eher in die andere Richtung: Sie bevorzugen bei Neueinstellungen jüngere Kandidaten, die sind schließlich billiger. Soviel zur Moral.

Es gibt ein Leben in und mit der Arbeitswelt, eines außerhalb davon, beides muss, einschließlich der Alimentierung human, sozial gerecht, auskömmlich und frei von Diskriminierung sein.




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Geschrieben von

H.Hesse

"Wenn es nur eine Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen." Pablo Picasso

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