Der Stellenwert der Wahrheit in einer Demokratie

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genau um diesen stellenwert sei es im verfahren vor dem ovg münster gegangen, sagte der vorsitzende richter in der begründung des urteils. die stadt dortmund muss die wahl des stadtrats wiederholen, weil der oberbürgermeister und die kämmerin vor der kommunalwahl 2009 das defizit von 100 millionen euro verschwiegen hatten.

das oberverwaltungsgericht gab der wahrheit die ehre. kann es nicht trotzdem sein, dass der vorsitzende richter den stellenwert des prozesses ein wenig hoch angesiedelt hat?


wenn wir uns nämlich in dieser demokratie umschauen, könnten wir den eindruck gewinnen, dass es mit dem stellenwert der wahrheit nicht so weit her ist. gerade windet sich der höchste repräsentant des staates,bundespräsident wulff, in defensiven formulierungen gegen den vorwurf, im landtag zu hannover die wahrheit verschwiegen zu haben.


und waren nicht seinerzeit die richter und medien allzu gnädig im umgang mit der weigerung des altkanzlers kohl, die wahrheit zu sagen über die herkunft der parteispenden?


und wie stand es mit der wahrheitsfindung in sachen atomkraft und die folgen? wussten die regierenden einschließlich kanzlerin merkel wirklich erst nach der katastrophe in fukushima, wie unverantwortlich gefährlich die förderung und nutzung der atomenergie ist? oder fürchtete frau merkel bloß den verstärkten widerstand der wahlbevölkerung gegen die strahlende atomwirtschaft?


in einer demokratie wie dieser halten es aber nicht nur die regierenden nicht eben von morgens früh bis abends spät mit der wahrheit. verbandelt mit der politischen klasse ist die ökonomische. sind deren reklamebotschaften, die unseren alltag durchdringen wie der feinstaub, wahrheitsgemäßer als die wahlversprechen der parteien?

und wo ist eigentlich der staatsanwalt, der die verantwortlich zeichnenden der rechtsradikalen veröffentlichungen vor einen richter bringt, der wie der zitierte vorsitzende des ovg münster vom stellenwert der wahrheit in einer demokratie so überzeugt ist, dass er die wahrheit auch durchsetzt? oder darf sich hier ein jeder unmensch einfach hinter dem grundrecht auf freie meinungsäußerung verstecken?

wenden wir den blick anderen zeitgenossen zu, die in besserem ansehen stehen. zum beispiel den geschichts- und religionslehrern. haben diese leutchen das privileg, statt beweisbaren sachverhalten mythen zu erzählen?

oder auch den noch höher angesehenen schriftstellern und filmemachern. sie sind dafür bekannt, dass sie wie zu olims zeiten "dichtung und wahrheit" in beliebiger mischung darbieten. vor ein gericht werden sie allenfalls wegen plagiats gezerrt.

schließlich, was kann unser richter gegen die zeitströmung der postmoderne tun, die behauptet, wahrheit sei nur ein phantom? dem könne man zwar nachjagen wie kinden einer seifenblase, greifen oder gar auf den begriff bringen, könne man sie aber nicht.

bleiben lediglich einige unentwegte kritiker/innen, die trotz der turbulenzen und unverschämtheiten der veröffentlichten meinung unbeirrt kurs halten auf die wahrheiten, die der menschheit heilig sind.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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