Zweig, Benjamin und Schachautomat

Literatur Stefan Zweig und Walter Benjamin zum Schachautomat

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Die „Schachnovelle“ erzählt uns die Ereignisse an Bord eines Passagierschiffes von New York nach Buenos Aires. Einige Rückblenden geben Hinweise auf die Vorfälle des Lebens des Ich-Erzählers vor und während der deutschen Invasion in Österreich. Neben dem Ich-Erzähler sind der Schachweltmeister Mirko Czentovic und sein talentierter Herausforderer Dr. B auf dem Schiff, zudem der wohlhabende McConnor, ein Abenteurer und Draufgänger. Sie alle kommen durch das Schachspiel in Kontakt.

„Es war das letzte Mal, daß ich mich im Schach versucht habe.“ Der unbekannte Schachspieler Dr. B. brach in sich zusammen und gab das Spiel auf, obwohl er es hätte gewinnen können. Er scheiterte nicht an seinem Talent, den Schachweltmeister zu schlagen, sondern an seiner manischen Hingabe für das Schachspiel. Er hatte es in der Wiener Isolationshaft unter dem Naziregime richtig angefangen und gelernt, in der Abstraktion zu denken. Bewusst oder unbewusst studierte er die Züge des Schachspiels mit den Ängsten und alle anderen Emotionen der Isolation. Fast jeder Zug löste eine andere Emotion aus dieser Zeit aus. Dr. B. entstand aus dem Feder Stefan Zweigs und zerbrach unter dem Stiefel der Nazis.

Dieser Text ist eine Einleitung in die Spätwerke von Stefan Zweig und Walter Benjamin, um diese Werke zu verstehen, ihre eigene Begriffe vieler Themen nötig sind, werden hier sie dargestellt. Wie weit diese Figur dem eigenem Schöpfer ähnelt, wie weit die Kunst des Schreibens des Schöpfers und die Kunst des Schachspieles gleichgesetzt werden können, gehen in ein weiteres biographisches Indiz hinein, dass Stefan Zweig sich einige Monate nach Beenden seines Werkes „Schachnovelle“ das Leben nahm. Wann ist Literatur und wann ist Leben, wenn das einzige Lebenzeichen das Schreiben wird.

Zweig und Benjamin haben in der letzten Phase ihres Lebens um dieselbe Figur ihr Denken zum Ausdruck gebracht. Das Ausbuchstabieren dieser Figur geht auf die Themen über, die Erkenntnisse vieler Bereiche ansprechen. Zweigs Werk baut sich auf Geschichte, Psychoanalyse, Philosophie und Politik auf und formt sie literarisch. Jede dieser wissenschaftlichen Sphären hat ihre eigene Kultur der Sprache. Aber die Literatur findet viel öfter den Zugang zu den Massen. Der Anfang war allerdings alles anderes von einer weiten Verbreitung. Das Werk erschien zuerst in Buenos Aires in einer limitierten Auflagen nur von 300 Stück am 7. Dezember 1942.

Der Figur des Dr. B mit vermutenden Ähnlichkeiten des eigenen Schöpfers stand ein Weltmeister gegenüber, der ungebildet ist und seine Emotionen kontrollieren kann. Er spürte die Unruhe des Gegners und fing an, seine Zeit bis zum letzten Moment einzusetzen, obwohl er viel früher die Steine auf dem Brett hin und her schieben könnte. Er beunruhigte seinen Gegner nicht auf dem Spielbrett, sondern in seinem frechen und respektlosen Verhalten auf dem Schiff nach Buenos Aires. Einst besiegte der japanische Schwertmeister Musashi Miyamoto den Feind in der Agonie, indem er sich zum Duell verspätete und den Gegner dadurch verärgert und irritiert hatte. Er hat die Zeit als ein Faktor seiner Kampfstrategie verstanden. Wie der Schwertmeister nahm auch der Weltmeister die Zeit in Anspruch, um zu gewinnen. Beide haben das eigentliche Spiel nicht aufgegeben, der Weltmeister hat die abgemachten zehn Minuten für einen Zug nie überschritten und der Schwertmeister kam ja zum Duell. Sie haben aber die Kultivierung und Rituale um das Spiel missachtet.

Zweig versucht, seine Begegnungen eines naiven, aber gebildeten und begabten Mannes mit den faschistischen Figuren in der Isolation darzustellen. Unter dem Stiefel des Faschismus fällt die Kultur auseinander, nicht mal den Begabten ist es gegönnt, ihr Talent einzusetzen. Die Arroganz des Weltmeisters erhebt sich auf den zertrümmerten Talenten. „Schade“ sagte der Weltmeister nach dem Abgang seines Gegners „großmütig“ und fügte hinzu: „Der Angriff war gar nicht so übel disponiert. Für einen Dilettanten ist dieser Herr eigentlich ungewöhnlich begabt.“ Zweig nennt seinen Weltmeister, den „unmenschlichen Schachautomat“.

„Bekanntlich soll es einen Automaten gegeben haben, der so konstruiert gewesen sei, daß er jeden Zug eines Schachspielers mit einem Gegenzuge erwidert habe, der ihm den Gewinn der Partie sicherte.“ So begann Walter Benjamin seine Geschichtsthesen. Der Schachautomat ist auch bei Benjamin etwas negatives. In seiner Handlung ist diese Maschine beschränkt. Er symbolisiert die Art der Philosophie in der zweiten Internationale. Dieser Historischer Materialismus sei dieser Schachautomat, verkleidet als Puppe in türkischer Tracht mit Wasserpfeife im Munde. Durch den jüdischen Messianismus soll diese Beschränktheit überwunden werden.

Walter Benjamin verdiente sein Brot durch die Kritik der Literatur und verbrachte seine Zeit mit Brecht mit Schachspielen in Dänemark. Es ist eine seltener gewordene Gewohnheit, eigentlich ausgestorben, dass die Intellektuellen miteinander Schach spielen. Während die Liebe und Bewunderung Lukács als Literaturkritiker seines Lieblingsautors Thomas Mann kaum erwidert wurde – er schaffte nur bis zu einer Figur in seinem Buch – hatte Benjamin die Gelegenheit eine Freundschaft mit seinem Lieblingsdichter zu schließen. Wann genau das Schachspiel unter den Intellektuellen ausgestorben ist, können wir retrospektiv nicht feststellen. Zweig war ein philosophischer Literat, Benjamin hingegen ein literarischer Philosoph aus Not. Er scheiterte mit seiner Habilitation und veröffentlichte sie als Buch Ursprung des deutschen Trauerspiels”. Benjamin schrieb seine Geschichtsthesen in Tradition der Philosophie 1940, weil er seine Botschaft in dieser Intensität, Kürze und diesem Umfang in ihrer Sprache zu schicken vermochte. Als Benjamin und Zweig ihre Gegenwart behandelt hatten, haben sie auf die Erkenntnisse der Menschheit im geschichtlich Gelernten zurückgegriffen. Benjamin konnte seine Zeit nur dadurch verstehen, indem er die Vergangenheit vergegenwärtigte.

Utopie und Messias

Benjamin löste den Gedanken des Fortschritts von einem zukünftigen Ort ab, das als Ziel dient. Es zählt nur noch Zeit, eine messianische Vorstellung. Der Grund dieser Umwälzung ist viel älter als Musashi Miyamotos Agonie. Der ägyptische Echnaton stieg als Gott auf und ließ Himmel und Hölle mit ihren Göttern eliminieren. Die jüdische Lehre entsprang diesem Glauben. Es hatte keine Vorstellung von der Erlösung. „Utopie“ ist keine radikale Abkopplung eines Ortes, sondern der jüdische Messianismus, weil Utopie immer noch vordergründig von einem Ort abhängt. Sigmund Freud geht davon aus, dass Moses von Juden/Jüdinnen selbst ermordet worden sei. Es ist die Hoffnung, dass er als Erlöser wiederkehrt, damit die Sünden vergessen bzw. vergeben werden können. Der Ursprung des Messias sei das eigene Verschulden der Menschen. Weder Utopie, noch ein Land oder eine Stadt sei eine Bestimmung für den Messias. Sondern, die messianische Aufgabe ist sie, die nur ihm sich selbst ergründend erscheint.

Benjamins Ansatz basiert auf der Vorstellung von Jetztzeit, die zeitlichen Kategorien, Vergangenheit, Jetzt und Zukunft zusammenbringen zusammenfasst. Diese Zeitkategorie ist nicht inhaltslos, deshalb hilft es uns nicht nur, einen theologischen Ausflug zu unternehmen. Die Entfremdung zwischen Arbeiter:innen und ihren Produkten soll aufgehoben werden, indem die Arbeiter:innen selber über sie verfügen. Mit dieser Position auf dem Spielbrett nahm er einen kommunistischen Standpunkt ein. Das Motto des Philosophen Joseph Dietzingen ‚‚Arbeit heißt der Heiland der neueren Zeit’’, in der die Verbesserung der Arbeit eine Aufgabe eines Erlösers sei, sei der Grund des Übels laut Benjamin. Diese deterministische Bestimmung und Tätigkeit eines Messias, die einem Automaten ähnelt, kann die Erlösung nicht herbeirufen. Wann und unter welchen Bedingungen der jüdische Messias kommt, ist nicht zu bestimmen.

Dr. B., „der wie ein unvermuteter Engel helfend vom Himmel kam.“, ist unabhängig von der Tätigkeit der Romanfiguren gekommen. Die beiden Figuren waren gegen den Weltmeister hilflos ausgeliefert und auf ihr Spiel konzentriert. Die Unterwürfigkeit des Gläubigen, dass sie aktiv um die göttliche Hilfe erbitten oder selbst ihre Handlung einen göttlichen Eingriff erwünschen, ist dem jüdischen Messianismus befremdlich. Er kommt unvermutet. Der Messias setzt die Welt außer Kraft und ordnet die Zeit neu. Dr. B. lernte das Schachspielen in der Isolation, er lebte währenddessen „außerhalb der Zeit, außerhalb der Welt.” Noch gegensätzlicher ist diese Situation nicht zu bestimmen. Eine hervorragende Fähigkeit wird in der barbarischen Isolation der Gestapo erlangt. Das hebt sich nicht im Sinne der zufriedenstellenden Dialektik auf einer höheren Stufe auf, sondern bleibt zerbrechlich und widersprüchlich. Er scheitert an der Ausübung der eigenen hervorragenden erlernten Fähigkeit.

Stefan Zweig zieht seine Figur noch mehr in die Nähe eines Messias heran: „Er verbeugte sich und ging, in der gleichen bescheidenen und geheimnisvollen Weise, mit der er zuerst erschien.“ Sein Messias scheitert und bleibt erfolglos. Nicht umsonst nennt er ihn „Homo obscurissimus“ Dem benjamin’schen Messias ist kein Maßstab der Handlung angelegt. Anders als Zweigs Messias, der individuell im Alltag erscheint, fast im katholischen Sinne, wunderbringend für den Einzelnen, ist Benjamins Messias für die gesamte Zeit und Menschheit gedacht. Es steht außer Frage nach dieser Erzählung, dass er den Erfolg haben wird. Er ist die Zäsur für alles.

Die Regeln für Schach?

Benjamin hat die Regeln des Schachspiels neu bestimmt, die zuvor mit einem Schachautomaten konform waren. Die Regeln, Eigenschaften der Figuren, der Ort, die Zeit des Spiels sind nun unbestimmter, unklarer und eventuell dynamischer. Ist sein Versuch, das Schachspiel mit Würfeln zu ergänzen, um das Unerwartete zu erhalten? Zweig gibt kaum Informationen über die Züge selbst. Er stellt diese Regeln nicht in Frage. Gerade die Begabung von Dr. B. ist die Anwendung und Vorauskalkulation der Züge auf dem Brett. Sein Widerspruch äußert sich zwischen Protagonist und Antagonist.

Literatur muss um ihr Überleben kämpfen, sie will über eigene Produzentin hinaus leben. Das Überleben setzt eine Strategie voraus. Die Strategie des Überlebens ist gesellschaftlich vorhanden, Literatur greift sie auf, verinnerlicht sie und gibt sie ästhetisch und verschattet wieder. Also, was ist die Funktion des Schachspiels: Die Transformation der gedachten Aufteilung der Heere in die Regeln und Figuren eines Schachspiels diente dem Ziel, den eigenen Verstand zu schärfen, Zeit zu vertreiben und die Geselligkeit zu fördern. So ist die Übertragung des Schachspiels eine Fortführung der militärischen Ausbildung und die Beschäftigung mit seinen Regeln war von Anfang an beschränkt. Es ist allerdings die populäre Art, über den Krieg zu philosophieren. Aber eine alte Art eines Krieges. Der General Clausewitz integrierte ein neues Element in die verschriftlichte Kunst des Krieges, nämlich das Volk, die Masse. Später definiert Benjamin die letzte geknechtete und rächende Klasse, die das Regeln des Schachspiels verwerfen muss. Die Zeitlichkeit wird aus ihrer gewohnten Bahn rausgeworfen.

Walter Benjamin lernte und schritt lebenslang fort. Als er mit Brecht Schach spielte, war er geduldig und mit einer Strategie der Zeit. Brecht schrieb über ihn und seine Art Schachspiels:

„An Walter Benjamin,
der sich auf der Flucht vor Hitler entleibte

Ermattungstaktik war's, was dir behagte
Am Schachtisch sitzend in des Birnbaums Schatten
Der Feind, der dich von deinen Büchern jagte
Läßt sich von unsereinem nicht ermatten.“

Er umwarf alles und bestimmte das Spiel von Neuem. Die Ermattungstaktik, die einem Feind, Gegner mehr Möglichkeit gibt, sich zu verteidigen, soll durch die Niederwerfungstaktik abgelöst werden, weil die Zeit und Spielregeln grundsätzlich anders ticken. So bleibt die Diskussion zwischen Niederwerfung- oder Ermattungsstrategie politisch hoch aktuell, auch außerhalb literarischen Kreisen.

Zweig zeigt eigentlich kaum Interesse am konkretem Spiel. Wir erfahren in der Schachnovelle mehr von den Ergebnissen als den tatsächlichen Verläufen des Spiels. Seine Unterbeleuchtung der Strategie geht darauf zurück, wie er die Welt mit ihren Regeln verordnet hat. Zuvor hat er in Calvin jemanden gesehen, der seinen Gegner Servet umbringen will und weil weder die biblische noch die mosische Lehre solchen Mord rechtfertigen würde, hätte er seine eigene Regeln und Interpretation ins Spiel gebracht. Deshalb ist seine eigene Strategie, die Regeln des Spiels und Kampfes beizubehalten, wenn er sie von Calvin oder von Hitler hinterfragt sieht. Hier taucht die Zeit als bestimmender Faktor auf, der solche Unterbrechungen und Rückfälle korrigiert. Bei ihm ist die Zeit die große Strategie. Die Zeit wird in ihrer gewohnten Bahn verstanden.

Die Reise mit Zweig „auf dem großen Passierdampfer, der um Mitternacht von New York nach Buenos Aires“aufbrach, ist nun anzutreten, diesmal mit Walter Benjamin mit seinem Schachbrett unter den Passagier.

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