„Ich sterbe!“ Mit diesem Verzweiflungssatz von Konstanze beginnt der neue, auch schwierige Roman Tage im Mai der Österreicherin Marlene Streeruwitz, ein Roman, den die bedeutende österreichische Schriftstellerin als Dialog zwischen Mutter und Tochter angelegt hat.
Konstanzes Tochter plagt eine ebenso große Resignation, die Nerven liegen blank. Im ersten Dialog mit der Mutter erzählt Veronica von einem Weinkrampf während ihrer Arbeit als Rezeptionistin in einem Hotel. Eine fremde Frau verlangt eine Türnotöffnung, sie schreit Veronica an, dass der die Tränen über die Wangen laufen. Die Perspektiven in dem fast 400 Seiten langen Roman wechseln beständig, stilistisch bleibt alles erlebte Rede. Am Ende des Romans ist es Tochter Veroni
t es Tochter Veronica, die sagt: „Wir sind richtige Doomer!“Der Ausdruck „Doomer“ stammt vom englischen Begriff „doom“, was „Untergang“ oder „Verderben“ bedeutet. In den sozialen Medien oder in der Jugendsprache wird damit eine Person bezeichnet, die eine sehr dystopische Sicht auf die Zukunft hat. Streeruwitz führt diesen Zustand des „Doomers“ auf die Krise der psychischen Gesundheit im Zuge der Corona-Pandemie zurück. Auf Corona sowie auf den Krieg gegen die Ukraine von dem „blöden Putin da“. Konstanze, von Beruf Übersetzerin, hat immer versucht, ihre inzwischen 20-jährige Tochter, die sie ohne Vater großgezogen hat, zu schützen und zu behüten. Jetzt, sagt sie, „gab es diese Putins. Diese Bidens. Trumps. Musks. Und wer auch immer. Die das kaputt machten. Die allen Schutz zunichte. Entblößten.“ Diese Schutzschichten waren nicht gerecht verteilt, stellt sie fest: „Die Milliardäre. Seit 2007. Die waren gepanzert mit Schutz.“„Angstschwangerschaft“Für die Autorin gibt es seit jeher – ähnlich wie für ihre Landsfrau Elfriede Jelinek – keinen Grund, was man sagen kann, nicht auch zu sagen. Zorn und Empörung waren immer Motive beim Schreiben ihrer 13 Romane und Texte fürs Theater. Für Streeruwitz ist die Literatur die ursprüngliche Wissenschaft vom Leben, insbesondere von dem Teil, der gegen patriarchale Herrschaftsformen zu verteidigen ist. Während der Corona-Pandemie war Streeruwitz mehrfach mit umstrittenen Äußerungen in Erscheinung getreten. Im Interview mit dem Freitag (17/2023)erklärte sie, dass diese Zeit eine Zäsur in ihrem Leben und Schreiben bedeutet hat. Im Roman zeigt sie nun, wie ernst es ihr damit ist. Mit Konstanze und Veronica, fiktiv zwar, aber realistisch, zeigt die Autorin nicht, was das Virus ihnen angetan hat, sondern die Regierungsmaßnahmen, die Menschen vereinzelt haben, weil sie sie in Geimpfte und Ungeimpfte trennten und in Lockdowns wegsperrten. In vormundschaftlicher Übergriffigkeit wurde sogar die gesetzliche Impfpflicht beschlossen. Auch wenn das Gesetz nicht mehr angewendet wurde, beruhigt das den Zorn der Schriftstellerin nicht. Sie benutzt für die Corona-Erfahrung ein präzises und zugleich poetisches Wort: „Staubkorngefühl“. Zu dieser Präzision gelangte sie, weil sie sich bereits ein Jahr zuvor in der 2021 von der Uni Koblenz neu eingerichteten Joseph-Breitbach-Poetikdozentur mit der Frage beschäftigt hatte, wie es um den Wert des Lebens stand, da doch „die politisch eingesetzte Sprache in der Pandemie den Singular der Abstrakta in neuer Form zurückgebracht hatte“. Dieser Singular ist das, was Angela Merkel als Alternativlosigkeit verteidigte und was von Jürgen Habermas als gefährliche Beschädigung der gesellschaftlichen Diskursqualität kritisiert wurde. Ohne Bereitschaft zum Plural keine lebendige Demokratie.Auf dieser hohen, auch sprachphilosophischen Ebene geht Marlene Streeruwitz das Thema an, das sie im Roman auch mit „Angstschwangerschaft“, „Zukunftsverlust“ umschreibt. Sie bricht die Überlegungen aus den Vorlesungen, veröffentlicht in dem kleinen Essay-Band Geschlecht. Zahl. Fall. (Fischer 2021), im Roman von der philosophischen Ebene herunter auf die Leben ihrer beiden Protagonistinnen.Handlung ereignet sich am Rande. Bei Konstanze ist es eine Schweiz-Reise zu einem Verleger-Ehepaar, Veronica kehrt nach einer sexuellen Attacke eines Priesters zu ihrer Mutter zurück. Worauf das Erzählen sich stützt, sind die reichen Biografien mit vielen Binnengeschichten der beiden Hauptfiguren. Instabil wird der Roman durch etwas anderes: Das Stil-Prinzip der erlebten, von Parataxen und Ellipsen aufgeladenen Rede ist bei Marlene Streeruwitz eben auch ein Mechanismus der Pausenlosigkeit. Dazu die typischen zerstückelten, abrupt endenden Sätze. Ein Roman in Dialogen braucht ständig Futter, aber er wirkt dann auch vollgestopft. Es muss sich immer noch etwas finden: Veronica will nicht Frau sein und eigentlich gar kein Geschlecht haben, Konstanze fürchtet das Altwerden, und beide zusammen sind sich einig, ohne Geld, ohne Familie und, schlimmer noch: ohne Zukunft dazustehen.Warum die österreichischen Veranstalter des Länderschwerpunkts sie nicht auf der Leipziger Buchmesse haben wollten, verstehe, wer will. Die zunächst ausgesprochene Einladung wurde nicht eingelöst, wie die Autorin auf Nachfrage bestätigt. Streeruwitz sieht sich mit ihren Angriffen gegen die Sprache der Politik als „demokratisches Verantwortungssubjekt“. In Tage im Mai wechselt sie nicht die Rolle, wohl aber mit den Möglichkeiten der Sprache die Form. Der Roman versucht etwas Hochriskantes: ein Mitschreiben an der Zeit, bei dem sich Literatur als ganz wesentliches Erkenntnismittel erweist.Placeholder infobox-1