Die Intendantin der Ruhrtriennale, Barbara Frey, hat es nicht leicht. Ihr Start im vergangenen Jahr geriet in den Mahlstrom der Covid-Pandemie, und zu Beginn der nunmehr zweiten Festivalausgabe ihrer dreijährigen Intendanz nahm man ihr den Wind aus dem Segel der Aufmerksamkeit, indem schon der Name ihres Nachfolgers, Ivo van Hove, bekannt gegeben wurde – statt diese Entscheidung wie üblich nach dem Festival kundzutun.
Nichtsdestotrotz legte Frey auch dieses Jahr einen erstaunlich kompromisslosen Spielplan vor – und startete mit einer kleinen Bösartigkeit. Festivals beginnen in der Regel mit politkulturellen Softeis-Reden. Frey verlegte die Begrüßung jedoch ans Ende der Eröffnungsvorstellung und zwang so Ministerpräsident Hendrik Wüst und K
2;st und Kulturministerin Ina Brandes, beide eher popkulturaffin, sich eindreiviertel Stunden neues Musiktheater anzusehen. Lebenslanges Lernen gilt auch für Politiker. Zudem handelte es sich bei Ich geh unter lauter Schatten, das Kompositionen für den Konzertsaal szenisch umsetzt, um Musiktheater von höchster Qualität. Im Zentrum: Gérard Griseys Vier Gesänge, die Schwelle zu übertreten, ergänzt durch Stücke von Giacinto Scelsi, Claude Vivier und Iannis Xenakis. Alle vier stehen auf unterschiedliche Weise quer zur Tradition der seriellen Musik, sei es, weil sie sich intensiv mit Fragen des Klangs beschäftigen oder an außereuropäische Traditionen anknüpfen.Dialog mit FlöteInhaltlich umkreisen die Kompositionen den Übergang zwischen Leben und Tod. Bühnenbildner Hermann Feuchter hat dafür die Jahrhunderthalle in Bochum mit vier gewaltigen Stegen gegliedert, die als Abstiege ins Schattenreich deutbar sind – wobei der Tod bei allen Komponisten nicht als Ruptur, die Toten nicht als Abwesende verstanden werden.Auf den Stegen sind vier Frauenfiguren positioniert, denen Regisseurin Elisabeth Stöppler vier unterschiedliche emotionale Verhältnisse zum Tod andichtet. Die daraus entwickelten narrativen Splitter reichen von bildstark bis anekdotisch. Sängerin Sophia Burgos gerät im ersten Gesang (Der Tod des Engels) in einen berührenden Dialog mit Flöte und Trompete („Ist mir vorbestimmt zu sterben?“); mit fast blasierter Kälte zählt im zweiten Gesang Kerstin Avemo die Leichen der Zivilisation durch, um kurz darauf mit verzweifelter Wut gegen den Chor anzurennen. Das in schmutzige Overalls gekleidete, fabelhafte Chorwerk Ruhr bringt daraufhin Iannis Xenakis’ Epitaph Nuits für politisch Verfolgte, die nur noch mit Lauten aus der Vergangenheit vernehmbar sind, mit großer Eindringlichkeit zu Gehör. Eine Deutung dieses Abends liegt darin, dass die Schwelle zwischen Tod und Leben nicht nur durchlässig ist, sondern dass unerfüllte individuelle und politische Ansprüche nie abgegolten sind, sie bleiben wie die Toten als Schatten lebendig. Dass dies so intensiv erlebbar wird, ist vor allem der stupenden Leistung von Solisten und Chor zusammen mit dem Klangforum Wien unter Dirigent Peter Rundel zu verdanken.Die zweite Eröffnungsproduktion ist eine Vorpremiere von A Plot/A Scandal von Ligia Lewis, die in der Dominikanischen Republik geboren wurde und heute in Berlin lebt. Die Tänzerin will eine Geschichte („a plot“) erzählen und geht dafür auf der Bühne, also in der Geschichte, rückwärts. Sie bricht dabei immer wieder in Grimassieren und Stampfen aus, sie stammelt, tremoliert – zitiert also weiße Darstellungsklischees schwarzer Realität, wie sie beispielsweise in Minstrel Shows benutzt wurden. Lewis’ eigentliches Anliegen, „a story of revenge“ zu erzählen, erstickt jedoch in weißen Klischees, die auch ihre Versuche historischer Selbstvergewisserung infizieren.Im zweiten Teil trägt die Tänzerin Allongeperücke, Zepter und Mantel und lagert auf einem Fell zwischen silbrigen Totenschädeln und Knochen. Sie imitiert Reitbewegungen, schreitet einher; Cembaloklänge zitieren das Zeitalter des Barocks, in dem der moderne Sklavenhandel begann; die Menschenrechte und der Code civil werden in Bezug zum brutalen Code noir für Sklaven gesetzt; Jahreszahlen weisen auf schwarze Sklavenaufstände („Komplotte“) wie die Haitianische Revolution von 1791 hin. Ligia Lewis verschlingt gierig ein Steak, während der Popsong Wild Thing von den Troggs die Szene untermalt.So triftig diese Kritik ist, so unspezifisch und redundant wirkt oftmals das sich wiederholende Bewegungsmaterial, selbst wenn es ironisch zitiert sein mag. Da hilft auch der Verweis auf Ligia Lewis’ Urgroßmutter nicht weiter, die ein Stück Land („a plot“) bewirtschaftete und eine Meisterin des Vodoo-Tanzes gewesen sein soll – was mit dem Balletttänzer Vaslav Nijinsky in Beziehung gesetzt wird. Doch der Bezug bleibt vage. Vielleicht zeigt sich hier, wie schwierig der Umgang mit den Schatten der Geschichte sein kann, wenn schwarze kulturelle Traditionen von einer weißen Suprematie ausgelöscht worden sind – und Leid sowie Hoffnungen bis heute als historische Ansprüche bohrend lebendig bleiben. Darin hat der Auftakt der Ruhrtriennale bei aller schwankenden Qualität seine brennende politische Aktualität.Placeholder infobox-1