Erkenntnisarm

Bühne Die Leiterin der Ruhrtriennale Stefanie Carp will endlich das „etablierte Musiktheater-Publikum“ brüskieren. Buh-Rufe gab es, aber nicht deshalb
Ausgabe 36/2019

Die Realitätsferne der Kunst zeigt sich am ehesten in ihrem Verhältnis zur Gewalt. Die Stilisierung zum Schutzraum und Antidot entspringt schierer Selbsttäuschung, das zeigten Regisseur Jan Lauwers und seine Needcompany mit ihrer neuen Produktion gleich zu Beginn der Ruhrtriennale 2019. All the Good entstand als Reaktion auf die Brüsseler Terroranschläge von 2016 und den Umzug der Künstlerfamilie in den Stadtteil Molenbeek. Gewalt ist da allerdings bereits inhärenter Bestandteil der Company: Der Freund einer Tänzerin wurde vor ihren Augen erschossen; der Vater der Geigerin hat Selbstmord begangen, der Tänzer Elik Niv war Elitesoldat, bevor er sich zum Tänzer ausbilden ließ. Gewalt als leibliche wie als psychische Erfahrung ist allgegenwärtig.

All the Good ist radikal solipsistisch und bringt nicht nur das Atelier der Company als Bühnenarchipel aus Werkbank, digitaler Staffelei, einer Glasskulptur und Podesten für die vier Musiker auf die Bühne der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck. Während Ehefrau Grace Ellen Barkey, Tochter Romy sowie Sohn Victor sich selbst verkörpern, wird Jan Lauwers von Benoît Gob gespielt – beobachtet allerdings vom „realen“ Jan Lauwers als „outside eye“. Der „Künstler“ Lauwers arbeitet verzweifelt an einer Installation aus 800 Glastränen, während man gleichzeitig durch das Œuvre von Kollegen wie Louise Bourgeois, Goya oder Artemisia Gentileschi galoppiert. Deren nachgestellte Vergewaltigung durch ihren Lehrer Tassi im Jahr 1611 knüpft wiederum an virulente Debatten der #MeToo-Bewegung an. Als Kontrapunkt (und Bestätigung) fungiert die Liebesgeschichte von Romy Lauwers und dem Tänzer Elik Niv, einem israelischen Elitesoldaten, der zur Kunst konvertierte. Die beiden lieben sich nackt auf der Bühne – bis die Eltern den Lover einem peinlichen Verhör über seine Mordbilanz als Soldat unterziehen. Und so setzt der Abend Thema auf Thema. Kunst und Politik, Ikonoklasmus, Israel, Natur und Religion werden angedeutet, doch nichts wird ausbuchstabiert. Ein polyphones Setting, aus dem am Ende dann doch wieder – allerdings auf eher unangenehme Weise – die Selbstbezüglichkeit von Kunst und Künstler hervorsticht.

Es bleibt elitär, warum nicht

Diese Art von narzisstischer Selbstbefragung schien auch auf Ruhrtriennale-Leiterin Stefanie Carp übergegriffen zu haben. Nachdem sie bereits im Vorjahr mit der Einladung der Band Young Fathers, die die israelkritisch bis antisemitisch agierende BDS-Bewegung unterstützt, für einen Skandal gesorgt hatte, gönnte sie sich auch in diesem Jahr eine Provokation. In einem Interview mit der Rheinischen Post kritisierte sie den elitären Charakter der Ruhrtriennale, schmähte die Besucher als „etabliertes Musiktheater-Publikum“ und forderte eine radikal andere Programmierung, um ein sozial diverses Publikum zu erreichen. Sich selbst nahm sie dabei sofort aus der Schusslinie: All das sei von ihr alleine selbstverständlich nicht zu leisten. Die Reaktionen auf die Provokation blieben aus – man kennt die Verschrobenheit von Carp inzwischen, die damit auch die von ihr eingeladenen Künstler diskreditiert.

Einer dieser Künstler war auch einer von Carps Vorgängern, der Musiker Heiner Goebbels. Seine Performance Everything that Happened and Would Happen nimmt Bezug auf Patrik Ouředniks Buch Europeana (2001), eine Art literarische „Wunderkammer“, die zwischen Waffentechnologie, Kaugummi und Positivismus das Grauen des 20. Jahrhunderts dingfest zu machen versucht. Goebbels konfrontiert Auszüge aus dem Buch mit Bildern der No-Comment-Reihe von Euronews und Dekorationsteilen seiner eigenen Inszenierung von John Cages Europeras, die 2012 bei der Ruhrtriennale herauskam. Musikalisch breitet ein fünfköpfiges Ensemble eine Klanglandschaft jenseits von Rhythmik, Melodie und Funktionsharmonik aus. Angereichert wird dieses Material mit installativen Bildern wie einem Tanz von 13 Sockeln, einem sich windenden roten Tuch, überblendeten Naturkulissen, bühnenfüllenden Strichcodes und einem düsteren Lichtgewölbe. Doch die Disparatheit des Materials und die (allzu) frei flottierenden Assoziationen schlagen bald um in hermeneutische Unzugänglichkeit. Man kann darin sicher die Frage nach der Triftigkeit historischer Narration sehen, aber auch eine leerlaufende Maschine ästhetischer Sinngebung, die mehr Langeweile als Erkenntnis produziert.

Dass eine solche Inszenierung selbst ein „etabliertes Musiktheaterpublikum“ herausfordert, zeigte der Buh-Sturm bei der Premiere. Stefanie Carps Programm ist weit entfernt von sozialer Diversität, sondern wandelt selbst auf dem Höhenkamm des Ästhetisch-Performativen. Dass die Ruhrtriennale sich dort auch in Zukunft bewegt, darf man bezweifeln. Wenn auch aus anderen Gründen. Als Carps Nachfolgerin wurde inzwischen Barbara Frey ausgerufen, derzeit Chefin des Zürcher Schauspielhauses. Unter Frey, die eher einem traditionellen Schauspielbegriff verpflichtet ist, dürfte das Pendel wieder mehr dem gesprochenen Wort zuneigen. Weniger elitär dürfte das Programm der Ruhrtriennale damit nicht werden. Aber das ist auch gar nicht ihr Auftrag.

Info

Ruhrtriennale 2019 Bochum, Duisburg, Essen, Gladbeck, bis 29. September

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