Identität ohne Bindestrich

Interview Lässt sich die Black-Lives-Matter-Bewegung aus den USA nahtlos auf Europa übertragen? Der Autor Johny Pitts hat Zweifel und entwickelt stattdessen sein eigenes Konzept
Ausgabe 42/2020

Der britische Autor und Fotograf Johny Pitts ist durch acht europäische Großstädte gereist und hat die Lebenswirklichkeit schwarzer Communities untersucht. Sein im Suhrkamp Verlag erschienener Reisebericht Afropäisch geht allerdings weit über die Schilderung eines alltäglich erfahrenen Rassismus oder sozialer Apartheid hinaus. Er erhebt den Anspruch auf ein politisches Konzept einer europäischen Blackness.

der Freitag: Herr Pitts, was bedeutet der Begriff „afropäisch“?

Johny Pitts: „Afropäisch“ fügt Europa die Idee der Andersartigkeit hinzu und stellt die Frage, wer sich eigentlich als Teil des Kontinents Europa verstehen darf. Der Begriff beschreibt einen Raum ohne Bindestrich, der all meine vielfältigen kulturellen Zugehörigkeiten mit einschließt.

Verbirgt sich hinter dem Begriff eine Vision oder gelebte Realität?

Ich bin auf den Begriff durch Musikbands wie Les Nubians oder Zap Mama aufmerksam geworden. Sie hatten gemeinsam mit Modefotografen und Stylisten „afropäisch“ zu einer attraktiven Marke gemacht. Als ich versuchte, den Begriff auf die gelebte Erfahrung schwarzer Communities in Europa anzuwenden, fiel er auseinander. Ich musste ihn neu definieren, damit er für das Alltagsleben schwarzer Communities genauso tauglich wurde wie für das Leben von Popstars. Ich habe dann mit Türstehern, Putzkräften, Straßenhändlern und Obdachlosen gesprochen. Der Begriff „afropäisch“ war zunächst nur eine Vision. Am Ende wurde er zu einem Sinnbild dafür, wie Kulturen sich vernetzen können und wie eine schwarze Kultur, die mit Afrika und mit Europa verbunden ist, ohne Bindestrich auskommt.

Sie stammen aus der früheren Arbeiterstadt Sheffield. Wie sah die schwarze Kultur aus, in die Sie hineingeboren wurden?

Ich wurde in den 1980er Jahren in Sheffield geboren, das eine lange und stolze Tradition als Stahlarbeiter-Stadt besaß. Viele Arbeiter kamen aus früheren Kolonien, aus Afrika, aus der Karibik oder dem Jemen. Durch die neoliberale Politik von Margaret Thatcher verloren viele ihren Job und wurden arbeitslos. Ich bin in einem Viertel namens Firth Park aufgewachsen, das durch den Film The Full Monty (Ganz oder gar nicht) bekannt wurde. Der Film zeigt allerdings nur die weiße Arbeiterklasse. Meine Community, zu der Jamaikaner, Somalis, Pakistanis und Inder gehören, wurde quasi aus der Geschichte herausgeschnitten. Das Sheffield, in dem ich aufgewachsen bin, kommt in der offiziellen Darstellung der Stadt eigentlich nicht vor.

Einer der Gründe für Ihre Reise, so schreiben Sie im Buch, sei eine Art von „Einsamkeit“ gewesen? Was meinen Sie damit?

Mein Buch ist in einer intellektuellen, kulturellen und geografischen Peripherie entstanden. Es ist weniger Einsamkeit gewesen, mehr das Gefühl des Alleinseins. Nach der Finanzkrise bekam all das, was mich als Schwarzer, als Brite, als Europäer und Afrikaner ausmachte, immer deutlichere Risse. Dann machten einige meiner weißen Freunde ein paar merkwürdige Bemerkungen. Und schließlich kam der Brexit und der Wiederaufstieg der Ultrarechten mit Leuten wie Donald Trump oder Boris Johnson. Ich fühlte mich alleine und zugleich verwirrt vom Kurs, den Europa und die Welt eingeschlagen hatte. Damals habe ich beschlossen, diese Reise zu machen. In gewisser Weise wollte ich meinen „Stamm“ finden. „Stamm“ nicht verstanden in einem herabwürdigenden Sinn. Ich war auf der Suche nach Menschen, bei denen ich mich kulturell zu Hause fühlen konnte.

Wie sind Sie in Kontakt mit den schwarzen Communities in Amsterdam, Brüssel, Moskau, Marseille oder Lissabon gekommen?

2010 habe ich die Seite „Afropean Culture“ auf Facebook eingerichtet, die sich an Menschen mit einer spezifisch schwarzen europäischen Erfahrung wandte. Die Seite wurde immer populärer, sodass ich 2013 daraus die Website afropean.com machte. User aus Kenia oder aus New York fragten, wo sie schwarze Communities in Europa finden können. Da wir nicht immer eine Antwort parat hatten, haben wir europäische User eingeladen, zu schreiben, wo und wie sie leben. „Afropean“ wurde so zu einer Wissensplattform, die mir wiederum bei meiner Reise durch Europa geholfen hat. Als ich in Lissabon war, habe ich die User gefragt, wohin ich mich wenden soll. Sie sagten: „Geh’ nach Cova da Moura“, und haben mir Kontakte vermittelt. Und so couchsurfte ich regelrecht durch das schwarze Europa.

In Paris trafen Sie den Aktivisten und Schauspieler Almamy Kanouté, der erzählt, wie streng voneinander getrennt westafrikanische, karibische und nordafrikanische Communities leben. Ist eine kollektive afropäische Identität nicht letztlich eine Illusion?

Nur weil Menschen die gleiche Hautfarbe haben, heißt das noch nicht, dass sie miteinander klarkommen. Es geht um ein Konzept der Blackness als politisches Projekt. Vergleichbar mit der Idee der Intersektionalität, bei der Feministinnen, Queere und vielleicht auch Schwarze sagen: Hey, wir haben gemeinsame Feinde und oder Dinge, die wir bekämpfen, vielleicht kommen wir ja als Gruppe weiter. Und darum geht es auch in meinem Buch: Ich versuche nicht eine monolithische Identität zu konstruieren, die alle Schwarzen in Europa im selben Club vereint. Es geht mir darum, zu zeigen, wie schwarze Communities miteinander ins Gespräch kommen und ihr Wissen teilen können, weil sie vieles gemeinsam haben.

Zur Person

Johny Pitts, geboren im britischen Sheffield, ist Moderator, Autor, Musiker und Fotograf. Sein Buch Afropean, das nun in der deutschen Übersetzung vorliegt, gewann den Jhalak-Preis, der mit 1.000 Pfund dotiert ist und einmal im Jahr an einen britischen Autor of Color vergeben wird

Kanouté träumt von einem Civil Rights Movement für Frankreich. Sie äußern sich skeptisch. Warum?

Klar, ich kann mir schon in Europa ein Civil Rights Movement vorstellen. Doch so inspirierend dieser historische Moment und Vorbilder wie Martin Luther King oder Malcolm X gewesen sein mögen, wir leben hier nicht im Süden der USA in den 1960ern. Die Abhängigkeit vieler schwarzer Aktivisten in Europa von politischen und ideologischen Bewegungen in den USA macht mich skeptisch. Ich glaube nicht, dass diese Bewegungen und ihre Politik sich passgenau auf die Situation in Europa übertragen lassen. Der Rassismus, dem schwarze Communities in Europa ohne Zweifel ausgesetzt sind, kommt subtiler und auf vielfältigere Weise zum Ausdruck.

Sie schreiben, dass Sie zunächst versucht haben, nicht zu sehr in die europäische Geschichte einzutauchen. Dann aber erzählen Sie doch von surinamischen Aktivisten der 1950er Jahre in den Niederlanden oder angolanischen Aktivisten im Portugal des Diktators Salazar.

Es ist nicht in erster Linie ihr Opferstatus, der schwarze Bürger zusammenbringt, sondern ihr Widerstand. Eigentlich wollte ich ein zeitgenössisches Porträt des schwarzen Europa schreiben, doch die Gegenwart wurde immer wieder von der Vergangenheit eingeholt. Das hat mich überrascht, und dadurch wurde das Buch auch wesentlich länger als zunächst geplant. In meinen Gesprächen kamen Dinge zur Sprache, die über Alltagsthemen hinausgingen und weit in die Geschichte zurückreichten. Viele Themen, die meine Gesprächspartner ansprachen, erforderten einen größeren Kontext, damit man sie überhaupt einordnen kann.

In Amsterdam haben Sie mit Aktivisten im Umfeld des Hugo-Olijfveld-Hauses gesprochen. Ihr Ziel ist es, ein „Black Archive“ aufzubauen, das die surinamisch-niederländische Geschichte dokumentieren soll. Was bedeutet das für ein eigenständiges afropäisches kulturelles Erbe?

Es ist wichtig, dass das Hugo-Olijfveld-Haus und die Black Archives in Amsterdam nur zum Teil von Regierungsgeldern abhängig sind. Zu oft werden radikale Projekte mithilfe staatlicher Gelder zum Schweigen gebracht oder in ihrer radikalen Ausrichtung geschwächt. Die Arbeit der Black Archives ist deshalb wichtig, weil Menschen hier selbst entscheiden, was gut für die schwarze Community ist, egal ob ihre Arbeit finanziell unterstützt wird oder nicht. Vor allem aber ist es eines der besten Projekte überhaupt, weil die Menschen ihre Geschichte und ihre Geschichten erforschen und teilen.

Sie sprechen im Buch von einer kulturellen schwarzen Tradition Europas, von Alexandre Dumas über Frantz Fanon bis Marie Daulne. Geht es Ihnen letztlich darum, einen Kanon afropäischer Kultur zu erschließen?

Genau darum geht in meinem Buch. Was ich am Civil Rights Movement der USA bewundere, ist das Vermächtnis, das es hinterlassen hat. Jeder schwarze Amerikaner hat schon mal von den Denkern und Führern der schwarzen Bewegung gehört. In Europa dagegen wurden zahlreiche schwarze Narrative zerstört oder unsichtbar gemacht. Ein Autor wie Frantz Fanon, der gerade wieder in Mode kommt, könnte beispielsweise Teil eines solchen heroischen Narrativs sein. Ich möchte diesen Denkern und Schriftstellern ihren rechtmäßigen Platz in einem schwarzen Mythos Europas zurückgeben. Wir brauchen Menschen, zu denen wir aufschauen können, weil sie Wichtiges für die schwarze Community getan haben. Aber gerade diese Menschen fehlen in den nationalen Lehrplänen und haben keinen Platz in einer gemeinsamen europäischen Identität.

Wenn Sie im Buch den Zusammenhang der Négritude-Bewegung und der Harlem Renaissance herausstellen, geht es dann auch darum, Traditionslinien des europäischen schwarzen Denkens herauszustellen?

Es wäre naheliegend gewesen, den Einfluss der Bewegung der Négritude auf die afrikanischen Befreiungsbewegungen darzustellen. Mich hat eher interessiert, was sie mit der Harlem Renaissance verbindet. Wie der Schriftsteller Aimé Césaire sich von dem inspirieren ließ, was in den 1920er Jahren in New York passiert ist. Und wie wiederum die Harlem Renaissance von Menschen aus den früheren Kolonien, deren Muttersprache Dänisch oder Holländisch war, geprägt wurde, die alle in dem Melting Pot Harlem zusammenkamen. Ich beschreibe Momente in der Geschichte, in denen manchmal schwarze und weiße Bürger, meist aber schwarze Communities sich in der Diaspora zu einer machtvollen Bewegung zusammengeschlossen haben. Vor allem aber interessiert mich, wo diese Bewegungen ihre Wurzeln in der Geschichte haben und wie wir ihr Vermächtnis weitertragen können.

Warum haben Sie schwarze Communities vor allem in den Großstädten Europas besucht?

Schwarze Communities lassen sich überall finden, aber ich habe mich auf Westeuropa konzentriert. Dass dort die meisten schwarzen Communities leben, hat selbstverständlich mit dem Kolonialismus zu tun. Dass sie vor allem in Großstädten leben, hat damit zu tun, dass sie dort leichter Arbeit finden. Eigentlich müsste man noch ein Buch über das Leben schwarzer Communities auf dem Land oder in kleinen Städten schreiben.

Sie sind in Vorstädte wie Clichy-sous-Bois in Paris, Bijlmer in Amsterdam oder Cova da Moura in Lissabon gereist, in denen die Häuser heruntergekommen sind und die Infrastruktur katastrophal. Wie lässt sich der Zusammenhang von Städtebau und Rassismus beschreiben?

Ich untersuche in Städten immer, in welchen Vierteln die Häuser gepflegt sind und die Infrastruktur funktioniert und in welchen das nicht der Fall ist. Migranten, Flüchtlinge oder generell Neuankömmlinge leben in der Regel in der heruntergekommenen Peripherie. Das ist das, was der Journalist Doug Sanders als „Arrival City“ beschreibt. Wer neu in eine Stadt kommt, geht erst einmal dorthin, wo sich Familien oder Freunde zuvor niedergelassen haben. Das sind dann häufig Viertel wie Clichy-sous-Bois oder Rinkeby. Diese Vorstädte habe ich auf meiner Reise besucht. Wir alle müssen uns aber die Frage stellen, ob wir zulassen wollen, dass diese Vorstädte eines Tages regelrecht explodieren. Wenn wir wirklich wollen, dass die Bürger dort teilhaben an diesem Europa, dann dürfen wir diese Vorstädte nicht verkommen lassen, sondern müssen sie unterstützen. Denken Sie an die Brandkatastrophe im Grenfell Tower in London. Oder die Katastrophe 1992 in Amsterdam-Bijlmer, als ein Flugzeug in einen zehnstöckigen Wohnblock flog. Oder 2018 der Einsturz mehrerer baufälliger Häuser im südfranzösischen Marseille. In allen Fällen waren vor allem sogenannte Migranten die Leidtragenden. In London-Hampstead oder in Berlin-Mitte passiert so etwas ziemlich selten.

Warum macht Marseille hier trotzdem eine Ausnahme – auch dort gibt es schließlich ein Viertel wie Castellane?

Für mich ist Marseille ein „afropäisches Mekka“, auch wenn das etwas leichtfertig ist. Jeder weiß, dass die Stadt mit Drogenhandel, Menschenschmuggel oder der rassistischen Rechten zu kämpfen hat. Aber in Marseille werden schwarze Communities nicht in die Vorstädte abgedrängt. Man findet sie zusammen mit Arbeitern mitten in der Innenstadt, was ich so aus keiner anderen europäischen Großstadt kenne. In Marseille findet das Leben auf den Straßen und den kleinen Plätzen statt, auf denen die Communities miteinander ins Gespräch kommen. Manchmal streiten sie sich auch, aber es findet ein ständiger Austausch statt. Ich mag an Marseille, wie der Multikulturalismus nicht nur in die gegenwärtige Stadtstruktur, sondern bereits in die Geschichte der Stadt eingeschrieben ist.

Hat die Reise durch Europa Ihr Konzept einer afropäischen Identität verändert?

Mein Buch beschreibt ein glückliches Scheitern. Anfangs war das Konzept des Afropäischen nicht mehr als eine Utopie. Dann wurde mit klar, dass „afropäisch“ vielmehr ein Ort der Möglichkeiten ist. Es ist nach wie vor eine Utopie, die aber bereits über ein festes Fundament verfügt. Dieses Fundament besteht aus einer Geografie europäischer Plätze und Orte, die miteinander ins Gespräch kommen können. Ich hatte das Gefühl, dass das Konzept des Afropäischen sich zunehmend real anfühlte und dass ich Teil von etwas Größerem war.

Info

Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa Johny Pitts Helmut Dierlamm (Übers.), Suhrkamp 2020, 461 S., 26 €

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