Die Koordinaten haben sich geändert. „Tief im Westen“ verortete noch Herbert Grönemeyer seine Heimatstadt Bochum. Johan Simons hat zur Eröffnung seiner Intendanz am Schauspielhaus nun das Motto „Mitten in der Welt“ ausgegeben. Nicht im Sinne einer zentripetalen nationalen Hybris, sondern als Zeichen einer globalen Vernetzung. Die Weltkugel mit ihren Gitternetzlinien dient denn auch als neues Logo des Schauspielhauses, ein multinationales Ensemble soll den Anspruch auch personell beglaubigen. Da liegt es nah, Reibungsverluste und Bereicherung durch den Clash der Kulturen und Religionen ins Bild zu rücken.
Lion Feuchtwangers Roman Die Jüdin von Toledo, den Simons zum Auftakt auf die Bühne hievt, spielt in der Zeit der Reconquista, also der christlichen Rückeroberung des muslimischen Spaniens. Wandlung und Spaltung sind die beiden ersten großen Metaphern, die der Abend aktiviert: Eine weiße, frei schwebende Wand (Bühne: Johannes Schütz) zerteilt die Spielfläche. Grenze und Klagemauer in einem. Unter ihr läuft fortwährend die Drehscheibe als historisches Rad des Lebens, das ständige Bewegung suggeriert. Die Schauspieler arbeiten mit oder gegen Drehung und Wand, unterwerfen sich, indem sie sich flach auf den Boden legen. Halt findet niemand.
Trümmerhaufen der Verluste
Der jüdische Kaufmann Jehuda Ibn Esra (Pierre Bokma) ist ein soignierter älterer Herr im Anzug, durchaus zu Heftigkeit in der Lage, aber immer strategisch denkend: Schutz für die jüdische Glaubensgemeinschaft gibt es nur, wenn Frieden und Wohlstand herrschen. Er ist vom Dienst beim Emir in den des kastilischen Königs Alfonso VIII. übergewechselt, der sich allerdings als gewaltverherrlichender Ritter versteht. Jehuda soll ihm Wirtschaft und Finanzen sanieren und damit neue Schlachten ermöglichen. Ulvi Erkin Teke als Alfonso steckt allerdings in verniedlichenden Kniehosen und Bomberjacke (Kostüme: Greta Goiris) und ist kaum mehr als ein durchgeknallter Soldatenteenie. Erotik und Autorität der Gewalt, die seine politisch klug kalkulierende Ehefrau Leonor (Anna Drexler) im Roman an ihm liebt, gehen ihm ab. Zweites Manko: Simons lässt den Abend mit derartigem Hochdruck spielen, dass Feuchtwangers komplexe Dispute auf der Strecke bleiben. Wie überhaupt die Dramatisierung von Koen Tachelet zwar dem Plot des Romans treu folgt und ihn in Dialoge auflöst, aber darüber allzu viel Figurenpsychologie preisgibt.
Feuchtwangers 1955 erschienener Roman thematisiert nicht nur gewaltverliebtes Heldentum, sondern vor allem jüdisch-christlich-islamische Religionskonflikte, die, wie sollte es anders sein, in einer kulturübergreifenden Liebe ihr Clashpotenzial beweisen: Jehudas Tochter Raquel und Alfonso verlieben sich ineinander. Im Roman ist Raquel eine neugierige, selbstbewusste, erotisch suchende junge Frau, bei Hanna Hilsdorf wird daraus ein quäkend-herumstapfendes Girlie. Ihre Identitätsverwirrung ist mehr Behauptung als szenisches Erleben. So wird daraus in Simons’ Inszenierung eine schlichte (Christian-)Boy-meets-(Jewish-)girl-Geschichte.
Allerdings gelingt es Simons, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus als Basso continuo der damaligen und heutigen Gesellschaft bedrängend zu vergegenwärtigen. Jehuda und auch Raquel setzen sich vehement für das Asyl bedrohter französischer Juden ein. Nicht nur Alfonso, vor allem der xenophobe Erzbischof Don Martin (Guy Clemens) hetzt mit Verbalinjurien und Aufrufen zum Kreuzzug. Der Glaubenskrieg verdichtet sich dann in einer eher schrägen Metapher: Das Ensemble drischt mit Schlagstöcken Bruchstücke aus der weißen Wand heraus, schlägt also auf das Trennende ein. Angestachelt von Leonors divenhafter Mutter Ellinor (Jele Brückner) rammeln sich die Männer kriegslüstern bis zur Erschöpfung. Triebabführmittel Religionskrieg? Na denn. Alfonsos Niederlage nutzt seine Ehefrau, um die Schuld auf Jehuda und Raquel zu lenken und so die Nebenbuhlerin zu beseitigen. Ein Pogrom sorgt für den Rest. Die Spielfläche hebt sich und kippt den Religions- und Emotionsmüll der Geschichte auf die Vorbühne. Ein Trümmerhaufen der Verluste, der auch die Inszenierung einschließt.
Verluste in einem eher zukünftigen Sinn feierten dagegen am Tag danach 13 Darstellerinnen auf der Bühne der Kammerspiele: den Abschied von der Kindheit. 13 Jahre alt ist die junge multikulturelle Riege, die in Lies Pauwels’ Der Hamiltonkomplex als Stewardessen zwischen antiken Säulen und Pferdeattrappe Sicherheitsanweisungen für die absurdesten Unglücke empfiehlt. Sie stellen sich mit Fantasienamen wie Eternity oder Destiny vor, kehren als wölfisch verstellte Rotkäppchen wieder, mühsam in Schach gehalten von einem Bodybuilder. Pauwels lotet mit ihrer Truppe den Raum zwischen Kindlichkeit und selbstbewusster Subjektivität, zwischen medialem Bild und Selbstbild aus und streift dabei die Grenzen zum Voyeurismus. Ob als säuselnde Sugar Dolls mit Schleifchen, als Models im Badeanzug oder als posendes ramponiertes Vergewaltigungsopfer in Strumpfhosen – die ironische Brechung der artifiziellen Lolita-Bilder beherrscht den Abend. Den „normalen“ Adoleszenzhabitus einer 13-Jährigen sucht man vergebens. Pauwels’ Verdienst liegt eher in einem theatralen Empowerment der Darstellerinnen, die mit ungeheurer Souveränität agieren.
Den Bochumer Premierenreigen beschließt in der Zeche Eins White Peoples Problems/The Evil Dead des Schauspielers Benny Claessens, der in diesem Jahr den Alfred-Kerr-Darstellerpreis erhielt. Was als Versuch gedacht sein mochte, dem deutschen Stadttheater versteckten Rassismus und Sexismus nachzuweisen, gerät zum Desaster. Die sieben Schauspieler raunen von „früher“, räsonieren über theatrale Repräsentation und versuchen sich an einer Ehrenrettung des Bergmanns. Dreidreiviertel Stunden Herumstochern in vermuteter theatraler Heteronormativität als theatrale Zeitverschwendung. So steht am Ende dieses Auftakts von Johan Simons’ Bochumer Intendanz eine sehr gemischte Bilanz. Klassisches Ensembletheater, Laien auf der Bühne, performative Stückentwicklung – das Angebot war reich, der Ertrag (noch) gering.
Die Jüdin von Toledo Regie: Johan Simons
Der Hamiltonkomplex Regie: Lies Pauwels
White People’s Problems/The Evil Dead Regie: Benny Claessens
Schauspielhaus Bochum
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