Bei der Zerstörung des Kachowka-Staudamms handelt es sich zweifellos um einen Dammbruch im doppelten Sinne – faktisch und metaphorisch. Große Flächen sowie Städte und Dörfer in der Provinz Cherson wurden überflutet, Tausende Zivilisten mussten fliehen. Wie viele ertranken, weiß man nicht. Das wahre Ausmaß dieser menschengemachten Katastrophe ist noch nicht absehbar. Russland und die Ukraine beschuldigen sich gegenseitig, für diesen verbrecherischen Akt verantwortlich zu sein.
Wahrscheinlich ist der Damm durch eine „interne Explosion“ zerstört worden. Kiew behauptet, Moskau stecke dahinter, weil Russland die Anlage kontrolliere und einen militärischen Vorteil aus einer Zerstörung ziehe. Die Fluten machten eine ukra
eine ukrainische Gegenoffensive an diesem Frontabschnitt unmöglich. Militärexperten zweifeln jedoch daran, dass es diese Angriffsabsicht je gegeben hat, da Kiew gar nicht über die dafür notwendigen amphibischen Fähigkeiten verfügt.Was António Guterres sagtMoskau behauptet, wegen der Überflutung russischer Stellungen seien eigene Angriffe nicht mehr möglich, ukrainische allerdings umso mehr, da die eigenen Befestigungsanlagen überschwemmt worden seien. Der genaue Hergang ist bislang unabhängig nicht zu überprüfen. Fest steht nur, dass Menschen auf beiden Seiten des Flusses mit einer Katastrophe ringen. Kurz vor dem Dammbruch hat weiter östlich an der Saporischschja-Front die lange angekündigte Gegenoffensive begonnen, der Zeitpunkt für das Fluten einer Region war wohl kein Zufall.Die Folgen für die Zivilbevölkerung sind immens. UN-Generalsekretär António Guterres beschrieb sie als „monumentale humanitäre, ökonomische und ökologische Katastrophe“. Nicht nur haben viele Menschen beiderseits der Frontlinie alles verloren und stehen vor dem Nichts. Die ganze Region hing stark vom Wasserkraftwerk und von seinem Wasserreservoir ab. Es bot Trinkwasser und sicherte die Bewässerung der Felder in einer „Kornkammer Europas“. Ohne diese Infrastruktur könnte sich, so die schlimmsten Befürchtungen, der ganze Raum in eine menschenfeindliche Wüste verwandeln. Nicht zuletzt die Süßwasserversorgung der Halbinsel Krim ist beeinträchtigt.Schäden für das ÖkosystemKurzfristig können die Wassermassen Landminen und viele Schadstoffe davontragen. Es besteht Seuchengefahr. Zudem verschärft sich der akute Strommangel. Die Kühlung des größten europäischen Atomkraftwerks Saporischschja ist laut UN-Angaben vorerst gesichert. Aber wie lange? Die langfristigen Schäden für das Ökosystem sind so enorm, dass manche bereits von einem Ökozid sprechen.Zweifellos ist die Zerstörung des Damms ein klarer Verstoß gegen das Erste Zusatzprotokoll zur Genfer Konvention. Die Grundidee des humanitären Völkerrechts besteht darin, dass – wenn schon der Krieg nicht zu verhindern ist – zumindest die zivilen Opfer minimiert werden sollten. Angesichts des Grauens des Zweiten Weltkriegs, der über 70 Millionen Tote kostete, die Mehrheit davon Zivilisten, verbot die 1949 verabschiedete Genfer Konvention zwar allgemein Angriffe auf die Zivilbevölkerung. Zivilisten blieben aber potenzielle „legitime Opfer“, wenn sich ein Angriff gegen politische Ziele und industrielle Objekte richtete, die Militäroperationen direkt unterstützten. Auch wenn sich ein substanzieller Bevölkerungsteil in der Nähe aufhielt.Die Genfer Konvention und ein ZusatzprotokollDie US-amerikanischen Bombenteppiche im Zweiten Indochina-Krieg (1964 – 1973) und die zahllosen zivilen Opfer in Nord- und Südvietnam trugen mit dazu bei, dass die Genfer Konvention 1977 um zwei Zusatzprotokolle ergänzt wurde. Das erste, über das Kriegsrecht in internationalen Konflikten, verbietet seither unter anderem den direkten Angriff auf Zivilisten und das Verursachen von exzessivem Kollateralschaden. Zugleich begrenzt Artikel 35 das Recht der Konfliktparteien bei der Wahl von Methoden der Kriegsführung, um überflüssige Verletzungen oder unnötiges Leiden zu unterbinden. Untersagt ist außerdem eine Kriegsführung, die langfristige schwere Schäden für die Umwelt verursacht. Explizit verboten sind Angriffe auf Dämme, Deiche und Nuklearanlagen (Art. 56).Um Verstöße gegen dieses humanitäre Völkerrecht verifizieren zu können, ist die Einrichtung einer International Fact-Finding Commission vorgesehen (Art. 90). Die Sowjetunion hat zwar das Erste Zusatzprotokoll unterzeichnet und ratifiziert, doch Russland zog 2019 seine Erklärung zurück, in der es die Zuständigkeit dieser internationalen Kommission anerkannte. Infolgedessen gibt es keinen von allen gebilligten Mechanismus, um die Schuldfrage in Sachen Kachowka-Staudamm zu klären.Die USA und die Atomwaffen-FrageDie Tatsache, dass die USA das entsprechende Dokument erst gar nicht ratifiziert haben, lenkt den Blick auf ein weiteres Problem. Washington hatte von Anfang an die Sorge, dass der erweiterte Schutz von Zivilisten im Krieg den Ersteinsatz von Kernwaffen und die Anwendung von (nuklearen) Repressalien im Fall eines konventionellen Angriffs verhindern könnte. Darum fügte es dem Ersten Zusatzprotokoll eine Deutung bei, die klarstellt, dass das Protokoll keine Anwendung auf den Einsatz von Nuklearwaffen findet. Darin waren sich übrigens Washington und Moskau einig.Angesichts der zu erwartenden schweren Verwüstungen im Fall eines allgemeinen Nuklearkriegs ist es zwar zynisch, aber nachvollziehbar, dass die US-Seite damals argumentierte, die Anwendung von Regeln zum Schutz von Zivilisten sei in diesem Fall „unpraktisch“. Doch was heißt das für den Einsatz taktischer Nuklearwaffen mit geringerer Sprengkraft? Diese kann von der Stärke der Hiroshima-Bombe (13 Kilotonnen) bis zu einer Sprengkraft von „nur“ 0,3 Kilotonnen reichen. Zu einer nuklearen Eskalation ist es im Ukraine-Krieg zwar glücklicherweise noch nicht gekommen, aber die mutwillige Zerstörung des Kachowka-Damms markiert eine qualitativ neue Stufe der Kriegsdynamik, die weitere Dammbrüche befürchten lässt.Placeholder authorbio-1