Der russische Angriff auf die Ukraine hat in Schweden und Finnland zu einem sicherheitspolitischen Umdenken geführt. Beide Staaten ziehen ernsthaft in Erwägung, Mitglied der Nato zu werden und sich damit unter den Schutz der Beistandsklausel nach Artikel 5 zu stellen. Zu groß erscheint ihnen die von Wladimir Putins aggressiver Politik ausgehende Gefahr. Während die sogenannte „Finnlandisierung“ der Ukraine als ein möglicher Baustein für ein Arrangement zur Beendigung des Krieges im Gespräch ist, befindet sich besonders Finnland auf dem Weg, den Status der Bündnisfreiheit abzulegen, während Schweden wohl bis zu den Parlamentswahlen im September wartet.
Sollte es so kommen, hätte der russische Präsident das nächste Eigentor geschossen, nachdem er sich bereits mit seiner „militärischen Spezialoperation“ verrechnet hat. Eine Norderweiterung wäre aus mehreren Gründen ein Albtraum-Szenario für Moskau. Erstens würde die gemeinsame Grenze mit der Nato um ganze 1.300 Kilometer verlängert. Zweitens ist Finnland gut gerüstet, Schweden hat 2017 die Wehrpflicht wieder eingeführt und will den Verteidigungshaushalt bis 2025 um 40 Prozent erhöhen. Drittens würde Moskau, sollte es in der Ukraine gewinnen, im Norden an Sicherheit einbüßen. Noch schlimmer wäre die Bilanz, wenn es in der Ukraine nicht gewinnt und gleichzeitig im Norden den Puffer Finnland verliert.
Moskau reagierte erwartungsgemäß mit Drohungen, inklusive der Stationierung von Nuklearwaffen. Da diese wahrscheinlich bereits in der Exklave Kaliningrad lagern, beeindrucken die Drohungen die schwedische und finnische Regierung kaum. Laut dem neuen finnischen Weißbuch zur Verteidigung dürfte Helsinki über einen Aufnahmeantrag eher innerhalb von Wochen als von Monaten entscheiden. Russland ist zwar in der Ukraine militärisch gebunden. Ohne Frage würde jedoch eine derartige Nato-Erweiterung zu einer stärkeren Militarisierung des Nordens führen.
Drei Gründe für die Norderweiterung der NATO
Ganz so überraschend kommt diese Tendenz keineswegs. So sind Finnland und Schweden bereits seit 1995 in der EU. Damit gilt für sie eine Beistandspflicht nach Artikel 42,7 des EU-Vertrags, deren Wortlaut bindender klingt als der von Artikel 5 des Nato-Vertrages. Die Armeen beider Länder verfügen zudem bereits über die volle Interoperabilität mit den Streitkräften der Nato. Sie sind ferner Mitglied der Northern Group, einem informellen Zusammenschluss von zwölf Anliegerstaaten der Ost- und Nordsee. Überdies kam es 2018 mit den Vereinigten Staaten zur trilateralen Absichtserklärung, die militärische Kooperation zu verstärken, was wiederum auf wechselseitigen bilateralen Abkommen über gemeinsame Manöver der Land-, See- und Luftstreitkräfte beruht.
Aus Nato-Sicht sprechen drei Gründe für eine Norderweiterung. Schweden und Finnland sind gefestigte liberale Demokratien, es handelt sich um hochentwickelte Staaten mit einer starken Ökonomie, und sie sind in der Lage, einen militärischen Mehrwert zu erbringen. Darum überrascht es nicht, dass Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg eine mögliche Norderweiterung lebhaft begrüßt und aus Washington gleichfalls positive Signale zu vernehmen sind. Es gibt freilich ebenso Argumente, die zur Vorsicht mahnen, da eine Nato-Norderweiterung ein weiterer Schritt in Richtung einer dauerhaften Konfrontation zwischen der Nato und Russland wäre. Auch wenn die potenziellen Beitrittsländer von einem notwendigen Akt des Selbstschutzes gegenüber Russland sprechen, bestätigt ihr Verlangen aus Moskauer Sicht hingegen die eigene Bedrohungswahrnehmung. Ganz abgesehen davon, dass sich die Nato zunächst einmal in die Lage versetzen müsste, die lange Grenze zwischen Finnland und Russland glaubwürdig zu verteidigen. Das ist kompliziert und teuer, aber technisch möglich, auch wenn die Länge dieser direkten Kontaktlinie die stete Gefahr einer jähen militärischen Eskalation birgt. Und dann hätte ein Beitritt Konsequenzen für künftige diplomatische Optionen der EU. Gerade Finnland und Schweden haben während des Kalten Krieges oft eine vermittelnde Rolle zwischen Ost und West gespielt. Nun schicken sie sich an, die Spannungen mit Moskau zu erhöhen.
Insofern wäre es klug, russische Besorgnisse nicht vollends zu ignorieren. So könnte beispielsweise Finnland anbieten, die freie Seepassage nach St. Petersburg zu garantieren und, dem Beispiel Norwegens folgend, auf die Stationierung von Nuklearwaffen und auf US-Militärbasen in Friedenszeiten zu verzichten. Angesichts der geografischen Nähe zur Halbinsel Kola mit dem dort stationierten russischen Nukleararsenal sowie seiner Nordflotte wären sicherheits- und vertrauensbildende Maßnahmen ratsam. So sollten Gespräche darüber beginnen, die für den künftigen Umgang mit europäischer Sicherheit nützlich sein könnten.
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