Der Realismus ist eine Denkschule in den internationalen Beziehungen, die einem einfachen Weltbild folgt. Sie vertritt die Auffassung, die Staaten streben nach Sicherheit durch militärische Stärke, weil sie in einer anarchischen Welt existieren, in der jeder des anderen potenzieller Wolf sein kann. Also gilt es, stark zu sein, um die eigenen Interessen gegebenenfalls auch militärisch durchsetzen zu können. Das kann zwar zu Rüstungswettläufen und zu einer Fehlallokation von Ressourcen führen, die dann – etwa im Gesundheitssystem – fehlen, räumen die Anhänger dieser Weltanschauung ein, aber sicher ist sicher.
Dieses Denken spiegeln die neuesten Zahlen zur Entwicklung der weltweiten Rüstungsausgaben wider, die das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI jüngst veröffentlicht hat. Danach stecken die Staaten immer mehr Geld in die Rüstung. 2020 waren es fast unglaubliche zwei Billionen Dollar. Unter den 15 führenden Staaten war Deutschland das Land mit der stärksten Steigerung: satte zehn Prozent auf insgesamt 49,3 Milliarden Dollar. Unerreichbarer Spitzenreiter sind die Vereinigten Staaten mit 740 Milliarden Dollar, gefolgt von China (261), Indien (71,1), der Russischen Föderation (65,1), Saudi-Arabien (61,9) und Frankreich (50,1).
Krieg gegen Corona?
Es ist schon seltsam: Die globale Corona-Pandemie legt vielerorts gravierende Mängel der Gesundheitssysteme so offen, dass sie keiner mehr übersehen kann. Die Sicherheit, ja das Leben der Bürger ist direkt gefährdet, zuweilen verloren, die soziale Existenz wird infrage gestellt, die Wirtschaft muss so stark heruntergefahren werden, dass es lange brauchen wird, Folgeschäden zu bewältigen – und was folgt daraus? Wann, wenn nicht jetzt, sollte Sicherheit anders gedacht werden als bisher?
Stattdessen trommeln die selbst ernannten Realisten für das nächste Gefecht. Der eine verbreitet, dass Deutschland angesichts der unzuverlässigen US-Sicherheitspolitik sich möglicherweise eine nationale atomare Option verschaffen müsse. Ein anderer beschwichtigt, dass das wohl (noch?) nicht möglich sei, kritisiert aber die mangelnde Strategiefähigkeit einer angeblich postmodernistischen Außen- und Sicherheitspolitik Berlins. Manche Experten plädieren vehement dafür, die Verteidigungslasten auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen sowie endlich eine „realistische“, an „tatsächlichen Bedrohungen“ orientierte Politik zu verfolgen.
Michael Rühle, stellvertretender Leiter der Politischen Planungseinheit im Kabinett des NATO-Generalsekretärs, will angesichts der Corona-Krise gar einen neuen Gesellschaftsvertrag. Darin sollte neben den altbekannten Prinzipien der Abschreckung und Verteidigung die neue Fähigkeit der Resilienz treten – also der gesellschaftlichen Widerstandsfähigkeit. Wurde der Begriff Resilienz zuletzt wegen hybrider Bedrohungen benutzt, die man Russland anlastete, hat er jetzt im Kampf gegen das Coronavirus erst recht Konjunktur. Da überrascht es kaum, dass die künftige Sicherheitspolitik im Kontext einer „Gesamtverteidigung“ gedacht wird. Das sich darauf berufende Konzept stammt aus der Zeit des Kalten Krieges und bindet militärische Verteidigung gegen einen äußeren Feind an eine zivile Verteidigung, die nicht militärischer Natur ist.
Ihr wurden einst drei Aufgaben zugewiesen: Krisenbewältigung, Unterstützung der militärischen Einsatzbereitschaft und Bevölkerungsschutz bei einem Angriff von außen. Nach dem Ende des Kalten Krieges spielte sie keine große Rolle mehr. Erst mit den Terroranschlägen von 2001 und dem Oderhochwasser von 2002 entwickelten Bund und Länder eine neue Strategie zum Schutz der Bevölkerung durch Großschadensereignisse. Angesichts einer veränderten Bedrohungslage wurde 2016 die „Konzeption Zivile Verteidigung“ verabschiedet. Diese denkt Zivilverteidigung wieder stärker im Sinne von Gesamtverteidigung.
Mehr als bedenklich erscheint es nun aber, wenn die durch das Coronavirus hervorgerufenen schweren Herausforderungen in einen verteidigungspolitischen Kontext gestellt und dadurch gewissermaßen instrumentalisiert werden. Ähnlich wie bei der falschen Behauptung, wir führten einen „Krieg gegen das Virus“, geht es nicht um Gesamtverteidigung, sondern darum, eine Pandemie zu bewältigen, also um gesundheitliche Prävention und Fürsorge.
Noch bedenklicher ist das mantraartige Verlangen nach noch mehr Rüstung in einer Zeit, in der das deutsche Verteidigungsbudget seit fünf Jahren unablässig steigt und die internationalen Rüstungskosten nur eine Richtung kennen: nach oben. Zugleich steigen aber auch die Kosten für die Bewältigung der Corona-Krise in unvorstellbare Höhen. So hat allein die Bundesregierung ein Hilfspaket von zunächst 1,2 Billionen Euro verabschieden müssen, um die ärgste Not zu mildern. Auch die EU arbeitet an einem Finanzfonds in Billionenhöhe. Der weltweite Unterstützungsbedarf dürfte noch um einiges größer sein und ist nicht endgültig kalkulierbar.
Falsche Realisten
Weil all das bezahlt werden muss, wird es zu Zielkonflikten und Verteilungskämpfen kommen. Darum ist es ratsam, die eingefahrenen Routinen der klassischen Sicherheitspolitik der falschen Realisten zu überwinden und sich stattdessen einem durch die Corona-Krise erneut vor Augen geführten neuen Realismus zu stellen: der Notwendigkeit, viel mehr für menschliche Sicherheit zu tun. Das Konzept stammt aus den 1990ern und wurde maßgeblich im Umfeld der Vereinten Nationen entwickelt.
Demnach umfasst Sicherheit nicht nur den Schutz vor physischer Gewalt, sondern auch vor weiteren Bedrohungen wie Umweltzerstörung, Krankheit, Armut und wirtschaftlichem Niedergang. Es handelt sich um einen kooperativen, friedenspolitischen und präventiven Ansatz, in dessen Fokus das Wohl der Menschen steht und nicht das machtpolitische Interesse des Staates, wie es die falschen Realisten immer wieder verkünden. Mehr menschliche Sicherheit ist die angemessene Friedensstrategie für die Covid-19-Welt, für die danach erst recht.
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