Revolution im Kammersaal

Eine Nachbesprechung Brecht und Eisler: "Die Maßnahme (Opus 20) & PROKOLL "Pfad des Oktober" aufgeführt am 30.1.22 im KMS der Philharmonie.

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Die Maßnahme, ein Chorstück von Berthold Brecht in Zusammenarbeit mit dem österreichischen Komponisten Hanns Eisler, von ihm selbst viele Jahrzehnte unter Verschluss, kam nun in einer besonderen Inszenierung zurück in die Philharmonie. Das Stück, welches zu den sogenannten "Lehrstücken" von Brecht zählte, bei dessen szenischer Darstellung er von dem japanische Theater inspiriert war und von ihm das Verbot zur Aufführung für viele Jahre erhielt, wurde, mit einem Brückenschlag in der Besetzung mit russischen und deutschen Chören, im KMS der Berliner Philharmonie vorgeführt. Das von ihm erteilte und 40 Jahre gültige Aufführungsverbot, so mutmaßte die Kritikerwelt, sprach er aus, da es eine Steilvorlage für stalinistischen Missbrauch in Glorifizierung und Heroisierung der Gewaltbereitschaft als Mittel zum Zweck bot. Zu nah war die Möglichkeit in diesem Stück, die Gewalt als letztliche Lösung im Prozess einer Veränderung der hierarchischen Strukturen zu sehen: »Aber nicht andere nur, auch uns töten wir, wenn es not tut.« Selbst Ulrike Meinhof bezog sich schon auf das Stück. Die erste Wieder-Aufführung, des erstmals 1930 in der alten Philharmonie mit einem Arbeiter-Chor gezeigten Stückes, fand 1997 im Vorfeld der Feierlichkeiten zum 100 Jährigen Geburtstag Brechts statt. Die Aufführung am 30.1.22 war die erste, die wieder in der Philharmonie statt fand, natürlich am neuen Standort.

"Pfad des Oktober" wiederum entstand aus dem Komponist*innen Kollektiv PROKOLL (1925-29) und beschäftigt sich mit der Radikalität der russischen Revolution. Ursprünglich sollten beide Werke die politischen Ideen, die Umwälzungen transportieren. In der heutigen Lesart stehen die Fragen weiterhin offen im Raum, können neu sortiert und neu eingeordnet werden.

Die künstlerische Leitung/Regie Fabiane Kemmann bringt die Thematik dergestalt auf den Punkt: :

„ Brecht erweitert und erhöht eine Frage, die schon Goethe stellte: Wie dem Bürgertum

etwas zum eigenständigen, kritischen Denken an die Hand gebe. ..." Brecht selbst bezeichnete diese Art des Theaters als "Das Theater der Zukunft".

Gemeinsam haben beide Stücke rhythmische Deklamationen und beide Stücke wurden für 300 Stimmen geschrieben. Mindestens 100 davon waren am Abend im KMS zu erleben. Zentral die kleine Bühne, passend zur szenischen Ausrichtung des Nō Theater Konzepts.

Der Abend wurde mit PROKOLL "Pfad des Oktobers" eröffnet. Im unteren Teil der zehnköpfige russische Chor Intrada (Moskau) mit Dirigentin Ekaterina Antonenko. Eingebettet dort das Klavier mit musikalischer Leitung von Peter Aidu und dem Synagol Ensemble, sowie dem Berliner Orchester Persimfans, das seit 2017 "Pfad des Oktober" fest im Repertoire hat. Ein Gebärdenchor begleitete zudem die Inszenierungen. Um den KMS mit Stimmen der 300 Arbeiterinnen zu füllen waren in den oberen Rängen der Refugio Chor, der Lysius Chor, der Erich-Fried-Chor und der Hans-Beimler-Chor, zunächst als Zuschauer getarnt, mit zu erleben. Der Refugio Chor Berlin ist ein Projekt mit obdachlosen Menschen.

Bei der Vorführung der Maßnahme übernahmen die Schauspieler*innen die kleine zentrale Bühne. Ihr Entwurf, in den 1920 von Hans Sharoun als idealer Theaterraum, ging ein den Saalbau der Philharmonie. Das Stück, welches am Ende die Erschießung eines jungen Genossen in Vorbereitung auf die Chinesische Revolution ver-/behandelt, läßt jazzartige Elemente und Arien auf Chansons, Chorälen auf Agiprop-Einlagen und Sprechchören prallen. Die Schauspieler*innenbesetzung mit James Nathan Kryshak, Tenor und den Schauspieler*innen Margarita Breitkreiz, Thomas Dannemann, Bernd Grawert, Almut Zilcher und Artemis Chalkidou zirkeln das Stück ganz in schwarz bekleidet ab. Einzig die Maske, weiße lehmartige Farbe, verteilt sich ahnungsvoll von den Gesichtern über die Körper und den Bühnengrund. Das Tempo und die Dramatik gipfeln am Ende in der Sprachlosigkeit der letzten 5 Minuten zum Innehalten. Der fünf Minuten Gedenken über einen besseren anderen Weg, anstelle einer Tötung - DER MAßNAHME.

Die Fusion der Stücke passt so gut in diese Zeit, Themen wie Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit und Gewalt im alten Gewand neu inszeniert und musikalisch atemberaubend vorgetragen, freilich war auch das beigegebene Übersetzungsheft für PROKOLL hilfreich und für viele Zuschauer notwendig. Beeindruckend das Zusammenspiel, beeindruckend die Schwere der Handlung.

Zeichnungen von Stück auf Instagram:

Textfontana_hai

Link zum Stück.

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Geschrieben von

Textfontana

Freie Journalistin, Bloggerin und Heilpraktikerin mit Schwerpunkt TCM. Themen Frauen-/Gesundheit, Kultur, Theater/Performances und Tanz.

*Würzburg 1966, seit 1987 in Berlin lebend. Selbstständig tätig im Gesundheitsbereich seit 1994. Journalistik Studienabschluss an der FJS Berlin 2019. Mitredakteurin bei bzw-weiterdenken.de seit 2019.

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