Sehnsucht und Aufbegehren

Tanzfestival Berlin 2022 Es wirkt wie ein Notruf und es ist auch einer. Die samische Künstlerin Elle Sofe Sara zeigte Ihr neues Stück: Vástádus eana – The answer is land, im Rahmen des diesjährigen "TANZ IM AUGUST", dem 34. internationalen Tanzfestivals in Berlin.

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Elle Sofe Sara ist eine Künstlerin, die an der Schnittstelle zwischen Film, Tanz und Theater wirkt. Sie ist eine als Sami geborene und hat mit 16 Jahren ihre Heimat verlassen, um in Oslo und London Tanz und Choreografie zu studieren. Ihr künstlerischer Ausdruck beim Tanz ist stark geprägt vom Ansatz der Laban-Körper-und Tanzarbeit. Sie kehrte zurück und lebt mit Mann, Kindern und Rentieren. Das nomadische Sami leben nah an der Natur und den Naturrhythmen empfindet sie als äußerst heilsam. In den Sommermonaten widmet sie sich ihrem künstlerischen Schaffen dann, wenn die Rentiere eine Art Sommerpause haben. Sie schafft mit ihrer Kunst eine Öffentlichkeit für die samischen, existenziellen, sozialen und kulturellen Probleme. So ist sie Mitbegründerin von DÁDDADÁLLU, einem samischen Künstler*innen Kollektiv. In ihren veröffentlichten Filmen thematisiert sie nicht einfach nur traditionelle Themen, sondern auch die Probleme, wie z. B. 2015 die Depressionsgefahr der jungen Menschen dort und aktuell arbeitet sie an einer Filmproduktion zum Thema Missbrauch. Die durch Verbote vom Verschwinden bedrohten samischen Sprachen, die sie auch selbst spricht, und der einzigartige samische Joik-Gesang, prägen die Vorführung mit traditionellen und neu verfassten Inhalten. Elle Sofe Sara lässt so das Land mittels der fantastischen Sängerinnen selbst sprechen. Der Gesang hat die Besonderheit nicht über Land, Berg, wie auch immer zu singen, sondern als Subjekt selbst das Land, der Berg, das wie auch immer zu sein und sich einer aktuellen Situation anzupassen. Es ist ein Gesang der Erde selbst, so zumindest beschreibt er sich. Als teuflisch wurde er in der Phase der Christianisierung Finnlands verbannt und verboten.

In schlichten schwarzen Rock, Bluse und Stiefel Kostümen starteten die Tänzerinnen das Stück außerhalb des Hau1 und prozessionsartig folgten die Zuschauer einmal ums Eck zum Hintereingang. Hervorhebt sich der teils mit traditionellen, teils der Fantasie entsprungen in vornehmlich roter Farbe gehaltene Haarschmuck und die roten, extra fürs Stück designten und handgefertigten Hüte. Bestückt mit Megafonen auf den Schultern oder in der ausgestreckten Hand startete die Gruppe mit einer Choreografie und Gesang unter freiem Himmel auf dem Hof des Theaters, die Zuschauer*innen umringten das Geschehen. Die schwarzen Stiefel werden mal recht energisch, mal sanft in der Art des "Irish Boots Dance" in den Fokus gerückt. Die erste Szene wirkte wie eine Demonstration und zugleich wie eine Einladung an die vier Himmelsrichtungen. Schon hier wird den Zuschauer*innen deutlich, wie viel Tiefgang und Kraft sie in diesem Stück erwartet. Nach dem Intro wurden die Zuschauer*innen ins Innere des Theaters geleitet. Vorbei an Requisite und Bühne, vorbei am Bühnenbild, bestehend aus viel hängendem Gewebe vom Bühnenhimmel bis teils zum Boden reichend, aus Stofffetzen, gestricktem und tierischen Materialien. Elle Sofe Sara ist bekannt für eine natürliche, imposante und harmonische Bildsprache. So wirkte auch die Bühne beeindruckend und erst auf dem zweiten Blick offenbaren sich dort Rentierkörper, deren Einschusswunden noch an den Köpfen zu sehen sind. Es ist ein Hinweis auf einen traurigen Alltag, denn die Samis sind zur Regulation ihrer Herden verpflichtet. Bei Überschreiten einer gesetzlich bestimmten Maßeinheit müssen sie sie dezimieren, erfahre ich im Interview mit Elle, welches im Festival begleitenden Magazin zu finden ist. Die eigene Beurteilungskraft, wann die Herde zu groß ist, ist ihnen genommen worden. Schwarz, Rot und etwas Goldbraunes sind die Farben, die im gesamten Stück dominieren. Mal sind die Gewebe mehr braun, mal in leuchtenden roten Farben, ähnlich den Stimmungen, die das Stück durchläuft: Von Trauer zum Auffuhr, zur Verzweiflung und Heilung durch das Aufgefangensein in einer Gemeinschaft. Der Sound, der in erster Linie gesungen, gestampft oder geatmet wird, schafft so einen sich verdichtenden Raum. Viel traditionell Anmutendes ist zu sehen und zu hören und doch durchbricht Elle immer wieder die Muster, um Neues zeitgemäß zu entwickeln, nicht beim Alten stehen zu bleiben. Beeindruckend die Vielfalt in Technik und Präzision der Tänzerinnen, überzeugend im Ausdruck zwischen Sehnsucht und Aufbegehren. Ein Stück, das das immaterielle Kulturgut dieses indigenen Volkes fokussiert und so einen wichtigen Beitrag in der Vermittlung schafft. Elle Sofe Saras neues Stück wird 2022 auch an anderen Orten in Deutschland zu sehen sein, im Herbst wird es in Düsseldorf spielen.

Hier der Link zum Stücktrailer auf ihrer persönlichen Homepage.

Zeichnungen entstanden im Stück siehe Textfontana@Insta

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Textfontana

Freie Journalistin, Bloggerin und Heilpraktikerin mit Schwerpunkt TCM. Themen Frauen-/Gesundheit, Kultur, Theater/Performances und Tanz.

*Würzburg 1966, seit 1987 in Berlin lebend. Selbstständig tätig im Gesundheitsbereich seit 1994. Journalistik Studienabschluss an der FJS Berlin 2019. Mitredakteurin bei bzw-weiterdenken.de seit 2019.

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