Schärfer einstellen

Gratis mit Völkischen ? Im heutigen Gemenge von Sport, Kultur und Politik muss für die Demokratie eine breite Verteidigungslinie aufgebaut werden.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Wer erinnert sich noch an Kaisers Zeiten? Franz Beckenbauer, der mit eleganter Leichtigkeit als Spieler den Aufstieg des FC Bayern München aus der zweiten Liga in die Spitze fußballerischer Klasse begleitete, ist für einprägsame Wortwahl bekannt. Als Teamchef bei der WM 1990 in Italien gab er dem ungeduldig neugierigen Reporter vor einer Begegnung noch den Tip: Schau’n mer ma, dann seh‘n mer scho. Kritisches Nachschauen gilt dieser beschränkt hoffnungsfrohen Geste ebenso wie allen anderen Tatsachen.

Aus einem bestimmten Blickwinkel ist Fußball Kampfsport wie anderer Sport. Wenn wir jedoch umstandslos 'Nationen gegeneinander kämpfen' lassen, vergessen wir einiges. Z.B., dass es neben Talent und Glück harte Trainingsarbeit braucht, die heute in der Spitze ohne medizinische, staatliche Handreichung und Doping kaum durchzuhalten ist. Dem Spielzweck angelehnt, der nur faire, glorreiche Sieger zu tolerieren scheint, hofft heute der Sponsor vom Ertrag für sich genügend abzweigen zu können. Wirtschaftlich gesehen, ist also das Kampfspiel aus nachvollziehbaren Gründen im allgemein geltenden Kreislauf der Kapitalverwertung verankert.

Aber Vorsicht! Nicht der fantastische Verdacht ist unser Thema, ökonomisches Handeln sei natürlich immer Trickserei, üble Geschäftemacherei. Erst recht nicht sollen Krisen verharmlost, fragile Sportpolitik ignoriert oder der Frage nach Lösungen ausgewichen werden. Die Freude am gepflegten ‚Rasenschach‘ ist unverwüstlich. Die ‚schönste Nebensache der Welt‘ bringt immer wieder nicht erwartete Resultate hervor. Und die Frage nach dem realen Gehalt des Strebens nach Gerechtigkeit interessiert schon. Sie betrifft nicht nur die Rolle des Schiedsrichters ‚ des Trainers, die regelmäßig mit Emotionen überschüttet und selbstgerecht angepöbelt werden.

Im Vergleich dazu blieb jetzt Jerome Boateng blieb souverän ohne gleichgültig zu sein. Immerhin feuerte Alexander Gauland seinen Giftpfeil gegen ihn ab, indem er, innerlich verhärtet, pauschalisierend die Abwehr des ‚Nachbarn‘ mit dunkler Haut abwälzte auf ‚die Leute‘ - in deren Namen er Politik betreibt: „Die Leute finden ihn als Fußballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben.“ Wir können hier schwach noch die moralische Strahlkraft des Sports spüren, während nach der EM der Politiker Gauland, angesichts der ‚schrecklichen Terroranschläge‘, die Religionsfreiheit zum Teufel jagen will. Sonderbar diese Eile, mit der er die programmatische Parteiforderung rhetorisch unterstreicht: „… muss jetzt das Asylrecht für Muslime umgehend ausgesetzt werden“. Passend distanziert sich der DDR-Flüchtling der 60er, der heute im völkischen Dunkel seine Lehren zieht, vom aktuellen Flüchtling, der vielleicht aus Eritrea kommt: „Der hat erst mal keinerlei Anrecht auf die Unterstützung eines ihm fremden Volkes“. Hier spricht der wild gewordene Kleinbürger, der Menschenrechte nur als verantwortungsloses Geschwätz und jederzeit manipulierbares Wortgetöse anerkennt.

Und die komplexe Krisengemengelage, was wissen wir darüber? Dass sich ein Abgrund auftut, wenn es um die ungelöste internationale Finanzkrise, die terroristischen Bedrohungen, die stotternde europäische Integration und ihre Brexit-Gegenbewegung, das türkische Kampfgetümmel und unsere eigenen Demokratie-Schulden im Zusammenhang mit weltweiten Fluchtbewegungen von Menschen in vermeintlich sichere Häfen geht. Dass es eine offene Frage ist, ob wir tatsächlich genügend Kräfte für humanitäre Lösungen mobilisieren können. Dass uns der geschönte Klang der Vergangenheit, die geliebte oder gleichgültige Heimat, der Drang des Unmittelbaren und Naheliegenden keine wirkliche Hilfe sein kann, wenn wir nicht selbst eine brauchbare Analyse der Wirklichkeit machen. Das ist schwierig, anstrengend und womöglich ein Weg mit Irrtümern.

Die knappe Entscheidung der Briten gegen einen Verbleib in der EU ist Resultat eines fehlerhaften Prozesses, paradoxes Werk verunsicherter politische Klassen. Komfortable Abfederung demokratischer Herrschaft durch das noch nachwirkende britische Kolonialsystem ist allmählich aufgebraucht. Empfindliche Konkurrenznachteile und nachfolgende Überfremdungsängste leben auf. Hoffnung auf profitable Coups im EU-Rahmen zerschlägt sich trotz aller ausgehandelten Sonderregelungen für GB selbst. Und jetzt, nach dem Referendum, ist guter Rat teuer.

Erste Erschütterung und Aufgeregtheit scheinen den wichtigen Mitspielern vermittelt zu haben, den Ball flach zu halten. Aber wer interessiert sich für die wirklichen Gründe, weshalb Leicester City ganz unerwartet englischer Fußballmeister wurde, den britischen Sport überhaupt eine starke multikulturelle Komponente auszeichnet? Ob Björn Höcke, zusammen mit seinem britischen Pendant, Provokateur oder ernst zu nehmender Realpolitiker ist, bleibt abzuwarten: „Ich weiß, auch das deutsche Volk will mehrheitlich raus aus der EU-Sklaverei.“

Ja, Reformen dürfen sich nicht rhetorisch erschöpfen. Die materiellen Grundlagen einer Union Europas müssen umgestaltet werden, damit demagogische Sprüche der zitierten Art ihre Wirkung verfehlen. Weil wir bei aller notwendigen Kritik bereits an der Nabelschnur hängen, darf die EU ahnungslos lockerem und unverantwortlichem Gerede nicht überlassen sein.

Und die nah-, mittelöstlichen Kriege, an deren blutigen Rändern unverschämte Wohlstandsoasen neben absolutem Elend gedeihen? Franz Beckenbauer hatte hier, am Ort der geplanten Fußball-WM 2022, keine Sklavenarbeiter gesehen. Professionelle Beobachter hingegen wissen, dass Deutschland, die Türkei, die Saudis, Iran, Israel, Russland, Frankreich, England, USA, Irak, Syrien direkt mit Waffengewalt an den sogenannten regionalen Kriegen beteiligt sind.

Der beim Morden und Zerstören geile Terrorismus, der einseitig lokalisiert wird, entfaltet sich in religiöser Verkleidung mit ähnlicher Motivation wie der archaische, seltene Kannibalismus in den anonymisierten Nischen der IT-Kommunikation. An diesem anonymen Faktor im Hintergrund prallt heute massenhaft Sozialisation ab, deren schicksalhafte Banalisierungen noch ungewiss sind.

Wir sehen, wie Fluchtbewegungen weiter anschwellen, sich mit mörderischen Motiven mischen und die Bekämpfung der Ursachen nur teilnahmslos deklariert wird. Diese Beobachtung schließt Doping im olympischen Sport, Schlepperei von Flüchtlingen, Korruption in Organisationen als industriell betriebene Ausbeutung unter staatlicher Beteiligung ein. Dass Werbe- und Getränkeindustrie stets Teilhaber solcher 'Vorgänge' sind, flankiert diesen Klassenkampf nur. Aber auch der Fortschritt der Konzeption des demokratischen Rechtsstaats und des Sozialstaats gehört in diesen Abschnitt der tatsächlichen Entwicklung, selbst wenn deren Verwirklichung oft schmerzhaft zurückgeworfen wird.

Dass es nicht primär etwa um diktatorische Gelüste des türkischen Staatspräsidenten geht, der eine zweitrangige Regionalmacht im chaotischen, vielleicht veralteten Staatengeflecht repräsentiert, ist gewiss. Dort geht es um Raub am Eigentum des politischen Gegners, sei er Soldat, Richter, Verleger, Arbeiter, Intellektueller. Aus unserer Sicht jedoch geht es um die Grundtendenz einer ‚schleichenden Katastrophe‘, wie Stephan Hebel jetzt kommentierte. Diese Gefahr zu erkennen, kann Ausgangspunkt intensivierter, zielgenauer Intoleranz der Demokraten sein, ohne unnötig zu dramatisieren.

Im Sport wie im Leben der Nationen ist das multikulturelle Element ein Gegenmittel zu den gängigen Formen völkisch-religiös verbrämten Fundamentalismus.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Ernst H. Stiebeling

Diplomsoziologe.Als Lehrer gearbeitet.Freier Publizist.Kultur-,Wissenschafts-,Politikthemen

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden