Der vergessene Genozid

Völkermord Kaum ein Völkermord hat so wenig Öffentlichkeit im Westen erhalten wie der Genozid des "IS" an den Yezid*innen im Norden Iraks im Jahr 2014. Wie ist das möglich?

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Es ist der 11. Mai 2021: Das UN-Ermittlungsteam UNITAD, welches Verantwortliche für Verbrechen im Nahmen des "Islamischen Staats" verfolgt, legt nach vierjähriger Untersuchung seine Ergebnisse vor: Die Verbrechen, die an der religiösen Gemeinschaft der Yezid*innen im Jahr 2014 im Norden Iraks (Pinjar) und des Pinjar-Gebirges begangen wurden, erfüllen die Kriterien eines Genozids. Der "Islamische Staat", welcher in selbigem Jahr die Kontrolle über das Hauptsiedlungsgebiet der Religion errang, tötete 10.000 Mitglieder systematisch, vertrieb weite Teile der dort lebenden Religionsgemeinschaft und versklavte zahllose Frauen und Kinder. Diese mussten als Soldaten für die Gotteskämpfer*innen in den Krieg ziehen, oder wurden Opfer schwerer sexueller Übergriffe.

In Anbetracht der unglaublichen Schwere dieses Verbrechens bleibt unklar, wie es möglich sein konnte, dass die islamistische Terrororganisation ihre Taten verüben konnte, ohne dass der Westen in vergleichbarer Weise auf diese Taten reagierte, wie es in Ruanda 1994 und Bosnien 1995 der Fall war. Zumal diese Taten in einer Zeit geschahen, in der wieder einmal die weltweite mediale Öffentlichkeit auf die Verbrechen des islamistischen Terrors fokussiert war. War hier bereits eine Form der Abstumpfung in der westlichen Berichterstattung erfolgt? War der Westen, war die BRD schon so stark an die Bilder von Hass, Fanatismus und die Zerstörung jeglichen friedlichen Zusammenlebens im Nahen und Mittleren Osten gewöhnt, dass ein weiteres Blutbad nicht mehr die entsprechende Aufmerksamkeit erhielt? Stellte man den Völkermord schlicht in eine Reihe mit den zahllosen Verbrechen der islamistischen Terrororganisation?

Ein zentrales Problem, das steht außer Frage, ist, dass die wenigsten Menschen im Deutschland wissen, wer diese Minderheit eigentlich ist, obgleich Karl May sie bereits in seinen Reiseromanen verewigte und die größte yezidische Diasporagemeinde mit immerhin ca. 150.00 Mitgliedern in Deutschland lebt. Die Yezid*innen (oder auch Jesid*innen genannt) sind eine monotheistische Religionsgemeinschaft, welche im Norden Iraks, aber auch in der Türkei oder in Syrien ursprünglich beheimatet sind und weltweit eine Millionen Angehörige aufweist. Sie verehren den Schöpfergott Ezid (daher der Name) und dessen Stellvertreter auf Erden, den "Engel-Pfau" (Ezid Melek). Das Missverständnis der yezidischen Mythologie führte zu dem immer wieder geäußerten Vorwurf, bei dieser Gemeinschaft handle es sich um Teufelsanbeter*innen; sei der Ezid Melek doch ein gefallener Engel. Yezid*innen kennen jedoch den monotheistischen Dualismus von Gut und Böse überhaupt nicht, genauso wenig wie einen literarischen Kanon wie es im Christentum die Bibel oder der Koran im Islam der Fall ist. Ähnlich wie im Hinduismus ist ihr gesellschaftliches Miteinander durch eine streng einzuhaltende Kastenstruktur geregelt. Eine Konvertierung zum Yezidentum ist nicht möglich, es wird lediglich innerhalb der Religion und der eigenen Kaste sich vermählt.

Als der "Islamische Staat" in ihr Hauptsiedlungsgebiet Sinjar im Norden Iraks 2014 eindrang, hatte diese kleine religiöse Minderheit bereits einen langen historischen Leidensweg mit regelmäßigen Pogromen hinter sich, zuletzt nach dem Ende der Husseindiktatur 2003 und dem Beginn des Arabischen Frühlings 2011. Doch die folgenden Verbrechen sollten ein nie dagewesenes Ausmaß an Gewalt offenbaren: Am 03. August 2014 begann, laut der Religionsgemeinschaft, der 73. Genozid ihrer Geschichte. Obwohl zahlreiche muslimische Gelehrte und Autoritäten im gleichen Jahr in einem gemeinsamen offenen Brief die Yezid*innen als "Schriftbesitzer" und damit zu einer schützenswerten religiösen Minderheit erklärten, kam es zu Massenerschießungen, Versklavungen von Frauen und Mädchen, der Zerstörung kostbarer yezidischer Kulturgüter und Massenvertreibungen. Insgesamt sollen 10.000 Menschen Opfer des Genozids geworden sein, zahlreiche Yezid*innen waren bereits zuvor in das nahegelegene Sinjar-Gebirge geflohen, wo sie Schutz durch kurdische YPG-Kämpfer*innen erhielten. Hunderttausende von ihnen leben derzeit noch in katastrophalen humanitären Situationen in Flüchtlingscamps, oftmals ohne Hoffnung, zurückkehren zu können. Die psychosozialen und gesellschaftlichen Folgen sind gravierend: Die Erfahrung des Völkermords, der potenziellen total Vernichtung hat viele Yezid*innen nicht nur traumatisiert, sondern auch dem interreligiösen Dialog zu Muslim*innen nachhaltig geschadet. Selbst in Deutschland lebt die verfolgte Diasporagemeinschaft nicht sicher: Zuletzt erklärte ein Gericht in Solingen 2019, dass eine junge Yezidi in den Norden Iraks abgeschoben werden könne; bestehe doch angeblich keine Gefahr mehr für ihre Religionsgemeinschaft in dem Gebiet.

Durch die Auswertung von Handys und elektrischen Geräten, durch Zeugenbefragung und durch Recherche in Verwaltungspapieren konnte das UNITAD-Team ab 2017 Beweise für die Gräuel sammeln. Doch die Aussichten auf eine nachhaltige inerstaatliche Aufarbeitung stehen nicht gut: Der Irak ist, Stand 2021, durch Jahrzehnte des Krieges so schwer erschüttert, dass er nicht die notwendigen rechtstaatlichen Ressourcen aufbringen kann, um die Verantwortlichen für den Genozid zu verfolgen und vor Gericht zu bringen.

Der Völkermord geschah nicht vor den Augen der Welt wie in Ruanda und in Bosnien. In beiden Fällen war eine UN-Mission im Staat, um Friedensmaßnahmen zu ergreifen, obgleich sie in beiden Fällen damit scheiterten. Möglicherweise wäre der Genozid auch nie einem breiten Publikum bekannt geworden, hätte UNITAD nicht intensiv Beweise für die Geschehnisse 2014 in Sinjar gesammelt. Wie und ob eine Aufarbeitung der Taten erfolgt, bleibt ungewiss. Der deutsche Rechtstaat zumindest hat gezeigt, dass die Erfahrungen des Genozids die Yezid*innen nicht vor willkürlicher Abschiebung schützen wird. Fest steht nur, dass sich dieses Verbrechen bereits im kollektiven Gedächtnis der religiösen Minderheit verankert hat. Leider jedoch nicht im westlichen.

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Geschrieben von

Niklas

Ich bin ein junger Student der Politikwissenschaften, welcher ein großes Interesse an kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Thematiken hat.

Niklas

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