Ist Belgien der nächste arktische Staat?

Arctic Security Das kleine Belgien ist knapp 4.300 km vom Nordpol entfernt und doch hat es ein strategisches Interesse daran, die regionale Entwicklung im Auge zu behalten.

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Belgien ist für vieles bekannt, seien es die Europäischen Institutionen, ein Königshaus und nicht zuletzt für berühmte Pralinen. Aber warum interessierte sich dieser Benelux Staat für die Arktis?

Mit einer Bevölkerung von etwas mehr als 11 Millionen Einwohnern, einer Küstenlinie von insgesamt 70 Kilometern und einer Größe, die so klein ist, dass sie oft als Maßeinheit für andere geografische Räume verwendet wird, erscheint Belgien vielleicht nicht wie ein typischer arktischer Staat - um den berühmten Begriff zu verwenden, der in Chinas Arktispolitik von 2018 geprägt wurde. Allerdings soll es nun eine belgische Arktis-Strategie geben, welche von Seiten politischen Entscheidungsträgern in Brüssel durchgesetzte wird. Nun stellt sich jedoch die Frage, ob diese Neuorientierung Richtung des Nordpols, wie eine klassische Arktis Politik angesehen sollte oder viel mehr als ein Vorrecht der Europäischen Union?

Belgien als polare Nation mit Erfahrung: Die Antarktis

Um zu verstehen, warum die Arktis nicht im Fokus der belgischen Außenpolitik stand, müssen die Uhren ein wenig zurückgedregt werden. Belgische und antarktische Historiker weisen gerne darauf hin, dass Belgien die erste antarktische Winterexpedition organisierte. Angeführt von Baron Adrien de Gerlache, einem Marineoffizier aus Hasselt, an Bord der RV Belgica, wird die belgische Antarktis-Expedition von 1897-1899 oft als die erste Expedition des heroischen Zeitalters der Antarktisforschung angesehen. Unter den Besatzungsmitgliedern befand sich ein 25-jähriger unbezahlter norwegischer Erster Offizier, Roald Amundsen, der später zu einem der berühmtesten Polarforscher werden sollte. Damit waren aber die belgischen Interessen in der Antarktis nicht beendet und setzten sich in der Tat fort. Für Antarktis-Rechtsexperten mag die Vorstellung, dass Belgien keine Polarnation ist, lächerlich klingen. Obwohl Belgien keinen territorialen Anspruch auf den siebten Kontinent erhebt, gehört es zu den zwölf Erstunterzeichnern des Antarktisvertrags.

Im Rahmen des Antarktis-Vertragssystems, ist das Interesse der Staaten an der Wissenschaft einer der Hauptpfeiler der antarktischen Verwaltung und Zusammenarbeit. Während des Internationalen Geophysikalischen Jahres (1958) errichtete Belgien auf einem schwimmenden Schelfeis vor der Küste von Dronning Maud Land die Roi Baudouin Base, seine erste wissenschaftliche Forschungsstation in der Antarktis. Die Station wurde später, 1967, stillgelegt. Ende der 1970er Jahre beschloss die belgische Regierung, ein Forschungsschiff für die belgische Meeresforschung zu bauen. Die neue RV A692 Belgica, benannt nach ihrem Pendant aus dem 19. Jahrhundert, wurde 1984 in Betrieb genommen.

In den 2000er Jahren hat Belgien über das Belgische Büro für Wissenschaftspolitik (BELSPO) und die Internationale Polarstiftung (IPF) unter der Leitung des Polarforschers Alain Hubert mehrere wissenschaftliche Expeditionen (BELARE) organisiert. Die IPF unterzeichnete 2009 mit dem Bau der Forschungsstation Prinzessin Elisabeth die vollständige Rückkehr Belgiens als wissenschaftlicher Akteur in der Antarktis. Die nach der ältesten Tochter von König Philippe von Belgien benannte Station ist die einzige emissionsfreie Forschungsstation in der Antarktis, die mit Solar- und Windenergie betrieben wird und in jeder Forschungssaison Wissenschaftler aus aller Welt beherbergt. Nach fast 36 Jahren ozeanographischer Forschung beschloss der Ministerrat, das RV A692 Belgica in den Ruhestand zu versetzen und ein neues Forschungsschiff anzuschaffen. Dieses neue Forschungsschiff trägt den Namen RV Belgica II und ist über BELSPO Eigentum der belgischen Regierun.

Am 13. September 2021 unterzeichnete Belgien ein Abkommen mit der Ukraine über die Übergabe von RV Belgica an die ukrainischen Behörden im Rahmen des Projekts der Europäischen Union zur Verbesserung der Umweltüberwachung im Schwarzen Meer (EU4EMBLAS). Somit liegt das ehemalige belgische Polarschiff nun in Odessa und wird für wissenschaftliche Forschungen im Schwarzen Meer eingesetzt werden.

Belgiens Ambitionen in der Arktis

Bei einer so tiefgreifenden Expertise in der Antarktis kann man sich leicht fragen, warum Belgien nicht mehr Bereitschaft gezeigt hat, sich aktiver an der arktischen Politik zu beteiligen. Belgien scheint ein offensichtlicher Interessenvertreter der europäischen Arktis zu sein. Auf internationaler Ebene hat sich Brüssel lange als Förderer der Rechtsstaatlichkeit gesehen. Mit Blick auf die Arktis trat Belgien dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (UNCLOS) bei und beteiligt sich an den UN-Verhandlungen über ein internationales rechtsverbindliches Instrument im Rahmen des UNCLOS über die biologische Vielfalt jenseits der nationalen Gerichtsbarkeit, das unter anderem das künftige Verhalten der Staaten im zentralen Arktischen Ozean kodifizieren wird, und ohne in Fragen der Rechte indigener Völker involviert zu sein, stimmte Belgien 2007 für die UN-Erklärung über die Rechte indigener Völker (UN Declaration on the Rights of Indigenous Peoples).

Wie andere nicht-arktische Staaten gezeigt haben, kann wissenschaftliches Fachwissen aus den südlichen Polarregionen mit der richtigen Sensibilität für das soziale, ökologische, kulturelle und rechtliche Gefüge der Arktis auf den Norden übertragen werden. Bisher ist Belgien vielen seiner europäischen Kollegen nicht gefolgt und hat sich um einen Beobachterstatus im Arktischen Rat bemüht. In einer Welt, in der eine strategische Positionierung der Schlüssel ist, um als ehrlicher arktischer Akteur angesehen zu werden - d.h. ein nicht-arktischer Akteur mit tiefem Verständnis für arktische Angelegenheiten - hat Belgien noch kein umfassendes arktisches Memorandum entwickelt, das potenzielle belgische arktische Interessen umreißt. In den letzten Jahren haben jedoch einige interne politische Entwicklungen die Aufmerksamkeit von Arktis-Experten in Belgien auf sich gezogen.

Konkrete Aktivitäten

Seit 2013 legt eine parteiübergreifende Gruppe belgischer Senatoren unter der Leitung des Senators und ehemaligen flämischen Regierungsministers Bert Anciaux (SLP) immer wieder einen Resolutionsentwurf über den Schutz und die Erhaltung der arktischen Region vor. Der ursprüngliche Resolutionsentwurf beschreibt mit einem breiten Pinsel die Landschaft der arktischen Angelegenheiten, die ökologischen Herausforderungen, potenzielle wirtschaftliche Aktivitäten, Fragen der Regierungsführung und das Konfliktpotenzial in der Region. Obwohl er die indigenen Völker und die Bewohner der Arktis erwähnt, konzentriert sich der Resolutionsentwurf mehr auf die geopolitischen Folgen der arktischen Veränderungen. Unter anderem fordert er Belgien auf, eine wichtigere Rolle bei der Schaffung einer gemeinsamen europäischen (EU) Arktis-Politik zu spielen, die EU zu ermutigen, sich weiterhin um den Beobachterstatus in der Arktis zu bewerben und sich weiterhin in der Arktis durch verschiedene multilaterale Rahmen wie die Internationale Seeschifffahrtsorganisation (IMO) und die NATO zu engagieren.

Interessanterweise wurde Belgien in der letzten Fassung des Resolutionsentwurfs für 2019 aufgefordert, sich im EU-Kontext für ein internationales Moratorium zur Ausbeutung von Bodenschätzen in der Arktis einzusetzen. Für das aufmerksame EU-Arktis-Publikum könnte dieses umstrittene Moratorium sehr vertraut klingen.

Das Engagement der EU in der Arktis hat die Haltung der belgischen Regierung in den letzten Jahren entscheidend geprägt. So betonte der damalige Außenminister Philippe Goffin (MR) bei der Beantwortung von Fragen der Abgeordneten des Ausschusses für Außenbeziehungen der Abgeordnetenkammer im September 2020 die Unterstützung Belgiens für die integrierte EU-Arktispolitik 20161 und für die Schlussfolgerungen des Rates der Europäischen Union von 2019.

Warum gerade Belgien?

Ist es angesichts der erneuerten und anhaltenden Interessen der EU an der Arktis an der Zeit, dass Belgien sein Engagement in der Arktis ausweitet?

In dieser Hinsicht war das Jahr 2021 ein wegweisendes Jahr für Belgiens Weg in die Arktis. Auf legislativer Ebene hat eine Gruppe parteiübergreifender Abgeordneter (Jasper Pillen (Offene VLD), Marianne Verhaert (Offene VLD), Kattrin Jadin (PFF) und Goedele Liekens (Offene VLD)) einen neuen Entschließungsentwurf vorgelegt, in dem die belgische Regierung aufgefordert wird, den mit den Entwicklungen in der Arktis verbundenen Sicherheitsherausforderungen mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Während sich die erste Hälfte des Resolutionsentwurfs auf geopolitische und sicherheitspolitische Fragen konzentriert, ist die zweite Hälfte aufschlussreicher darüber, wie belgische Politiker über die Arktis denken. Der Resolutionsentwurf erkennt an, dass die Arktis wenig Einfluss auf das internationale Handeln Belgiens hatte, und hebt die strategischen und geo-ökonomischen Auswirkungen einer sich erwärmenden Arktis hervor. Da Zeebrugge, einer der größten belgischen Häfen, welcher stark investiert hat, um zum wichtigsten EU-Umschlagplatz für russisches Flüssiggas zu werden, hätte das Potenzial neuer arktischer Handelsrouten, wenn das arktische Sommereis rapide abnimmt.

Obwohl die Arktis immer noch ein Nischenthema unter den Beamten und Politikern der Außenpolitik in Brüssel ist, wird in den parlamentarischen Sitzungen und Debatten allmählich etwas häufiger über sie gesprochen. Erst vor kurzem twitterte der EU-Sonderbeauftragte für arktische Angelegenheiten, Michael Mann, dass er an einer Sitzung des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des Parlaments teilgenommen habe, um die jüngsten Entwicklungen in der Arktis zu diskutieren.

Darf Belgien ein Akteur in der Arktis werden?

Mit seiner gut dokumentierten kolonialen Vergangenheit und seinem kontroversen Erbe dessen,muss Belgien darauf achten, wie es sich in der Arktis engagiert. Die Vermeidung kolonialer Rhetorik in Hinblick auf die Arktis, ist entscheidend, um als ehrlicher Akteur am Nordpol auftreten zu können. Da der Klimawandel und die Krise des Anthropozäns die Art und Weise beeinflussen, wie Menschen und Gesellschaften mit der natürlichen Welt (nicht nur der Arktis) interagieren, sind gleichzeitig besser durchdachte und strengere Umweltmaßnahmen im eigenen Land erforderlich. Wenn das alte arktische Sprichwort "Was in der Arktis passiert ..." wahr ist, gilt dies auch umgekehrt. Was in Belgien passiert, bleibt nicht in Belgien. Inmitten des Chaos der belgischen föderalen Kompetenzverteilung könnte dies die Förderung eines stärkeren Zusammenhalts zwischen den Regionen und der föderalen Regierung erfordern; eine große Aufgabe selbst für die geschicktesten Politiker.

Mit seiner reichhaltigen wissenschaftlichen und diplomatischen Expertise Belgiens in der Antarktis gibt es definitiv Raum und die Bereitschaft der relevanten öffentlichen und privaten Institutionen für ein stärkeres arktisches Engagement.

Sollte sich Belgien um die Aufnahme in den Arktischen Rat als Beobachter bewerben? Gibt es andere Möglichkeiten, sich in der arktischen Governance zu engagieren? In dieser Hinsicht kann man von nicht-arktischen Staaten und nicht-staatlichen Akteuren lernen, die sich in den letzten Jahren um mehr Engagement in der Arktis bemüht haben. Der fortwährende De-facto-Beobachterstatus der EU und die Ablehnung der estnischen Bewerbung in 2021 erinnern daran, dass die Beteiligung an der arktischen Politikgestaltung durch den Arktischen Rat kein Kinderspiel ist. Um ehrlicher arktischer Akteure zu werden, sollten die EU-Mitgliedsstaaten langfristige Strategien entwickeln, um engere Verbindungen zur Arktis als Region, zu den arktischen Staaten und den lokalen und indigenen Gemeinschaften zu suchen.

Dies könnte auch bedeuten, mehr Arktis nach Belgien zu bringen. Eine gewisse Arktis Strategie wird im Laufe der Zeit vollzogen und muss ständig bekräftigt werden. Nicht-regionale Staaten, die in alle oder einige Teile der arktischen Governance involviert sein wollen, müssen eine Entscheidung darüber treffen, welche Art von arktischen Beziehungen sie schaffen wollen. Das arktische Netz von miteinander verbundenen Verbindungen kann von bilateraler Zusammenarbeit mit bestimmten arktischen Staaten und nichtstaatlichen Partnern über die Investition von Ressourcen in multilaterale Foren bis hin zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit und der Bekämpfung des Klimawandels von zu Hause aus reichen.

Wohin führt der Weg Belgiens in der Arktis?

Für Belgien stellt sich nun die Frage, in welche Bereiche der Arktispolitik es investieren möchte. Schon ein kurzer Blick auf die Liste der Mitwirkenden des MOSAIC-Projekts zeigt uns, dass viele belgische (oder in Belgien ansässige) Wissenschaftler und Forscher arktisrelevante Projekte durchführen oder daran teilnehmen.

Die "Arktisierung" der belgischen Außenpolitik und Wissenschaftsdiplomatie kann jedoch nicht nur von motivierten Einzelpersonen ausgehen. Sie erfordert ein koordiniertes Vorgehen. Die Förderung der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit durch Wissenschaftsdiplomatie, Investitionen in die Arktisforschung, sowohl in den Natur- als auch in den Sozialwissenschaften, und ein verstärkter Dialog mit den Bewohnern der Arktis würden dazu beitragen, das Engagement der einheimischen Forscher und politischen Entscheidungsträger zu optimieren.

Was wäre die nächste Aufgabe auf Belgiens Arktis-Agenda? Das vielleicht nicht ganz einfache Unterfangen, ein zusammenhängendes belgisches Arktis-Strategiedokument zu entwerfen, das Wissenschaft, Politik und ein tiefes Verständnis für arktische Angelegenheiten und Governance miteinander verbindet. Doch gibt es hierfür genug politischen Willen in Belgien?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Isabelle-Constance V.Opalinski

Journalistin, Autorin, Publizistin

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