Nachtgedanken

Denke ich an Deutschland Was mir den Schlaf raubt. Sehr persönliche Nachtgedanken.

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Nachtgedanken (Heinrich Heine)

Denke ich an Deutschland in der Nacht,

Dann bin ich um den Schlaf gebracht.

Ich kann nicht mehr die Augen schließen,

Und meine heißen Tränen fließen.

Irgendjemand hatte mir einmal den Rat gegeben, alles, was nachts in meinem Kopf kreist und mich nicht schlafen lässt, aufzuschreiben, um es auszulagern, damit ich "Ruhe fände" und mir der "Kopf nicht platzte". In den Harry - Potter - Romanen gab es als Auffanglager für oft brisante Erinnerungen und Gedanken das "Denkarium". Hier ist meines:

Seit dem 3.10.1990 lebe ich in Deutschland. Während der letzten Parlamentswahlen in meinem Heimatland hatten 48 % die sogenannte Allianz für Deutschland (CDU, DSU, DA) gewählt. Weil sie damit aber noch längst nicht die Mehrheit der Sitze in der Volkskammer errungen hatte, ging diese Allianz eine Koalition mit der SPD und den Liberalen ein. Obwohl der damalige Kanzlerkandidat der WEST-SPD, Oskar Lafontaine, gegen eine schnelle Wiedervereinigung von DDR und BRD war, stimme die Ostschwester der SPD in der Volkskammer für den Beitritt der DDR.

Für alle, die sich in einer der Bürgerbewegungen für den Erhalt und die Veränderung der DDR engagiert hatten, gab es bei diesen Wahlen kaum eine Chance. "Alle Parteien im Westen unterstützten ihre Partnerparteien in hohem Umfang und konnten dadurch den organisatorischen Vorsprung der SED/PDS mehr als wettmachen." (wikipedia) D.h. die Bürgerbewegungen hatten keine Chance. "Das Bonner Nilpferd ist in seiner Massivität gekommen, dass man einfach hilflos war. Im Wahlkampf ist einfach der gesamte Apparatismus des Westens in den Osten gebracht worden. Dem hatten wir nichts entgegenzusetzen. Das waren in die DDR exportierte Westwahlen." Jens Reich, NEUES FORUM

Da ich keine der o.g. Parteien gewählt hatte, musste ich also widerwillig ertragen, was dann passierte. Ich lebte plötzlich in einem Land, das mit meinem Land tabula rasa machte. Industrie, Kultur, Bildung, Wissenschaft - alles wurde zerkloppt. Gierig krallte man sich unser Volkseigentum (Betriebe, Immobilien, Land ...). Plötzlich gab es Hunderttausende, die keine Arbeit mehr hatten, deren Lebensgrundlage zerstört war, die das Land verließen, viel mehr als es vorher verlassen hatten. Ich lebte nun in einem Land, in dem Theater geschlossen und abgerissen, die Betriebe sowie die kulturellen und Freizeiteinrichtungen abgewickelt wurden. Nahezu die Hälfte der Einwohner meiner Heimatstadt verließ diese. Die tausendjährige Stadt mit ihren zahlreichen Bürgerhäusern aus Gründerzeit und Jugendstil verfiel und verfällt immer noch. Was hier seit 1990 passiert, ist schlimmer als 40 Jahre Erhalt auf Sparflamme. Ganze Regionen wurden deindustrialisiert. Dadurch wurden Menschen entwurzelt und ihrer sozialen Bindungen beraubt. Denn in der DDR war Arbeit oftmals mehr als Broterwerb und Schaffung von Mehrwert, der hier ja nicht in private Taschen floss, sondern allen zugute kam in Form von subventionierten Mieten, Lebensmitteln, öffentlichem Verkehrswesen; kostenloser medizinischer Versorgung, kostenloser Kinderbetreuung für alle, Bildung, Stipendien für alle Studierenden, sozialen Maßnahmen für junge Familien, Rente mit 60 bzw. 65..... . Gegen alles, was nicht gut war, gingen wir 1989 auf die Straße, hatten aber eigentlich keine Chance auf eine eigene Entwicklung s.o. Auf die Schwäche des sozialistischen Lagers hatten bestimmte Kreise im Westen schon lange gewartet und unsere Regierungen waren dumm und borniert genug, diese herbeizuführen, indem sie ihre Bürger wie Feinde behandelten. Der Feind stand aber ganz woanders.

Ich lebte plötzlich in einem Land, in dem Menschen den Freitod wählten, weil sie die neue kapitalistische Wirtschaft nicht mehr brauchte. Rolf Hochhuth war der einzige, der sich dieses Themas annahm mit "Wessis in Weimar". Mein Onkel und meine Tante setzten mit Mitte 50 ihrem Leben ein Ende, nachdem beide ihre Arbeit, ihr soziales Eingebundensein verloren hatten und auch noch ihr letztes Refugium, ihr Kleingarten, einem was - weiß - ich - Gewerbegebiet weichen sollte. Meine Tante ertränkte sich in einem der Tagebauseen, die die Landschaft meiner Heimat prägen. Die Vorstellung ihres Ertrinkens verfolgt mich manchmal noch im Schlaf. Mein Onkel, der schwimmen konnte, betrank sich und erhängte sich in der nun nicht mehr benötigten Laube des bereits verwüsteten Kleingartens. Beide hatten in ihrem Leben nichts Anderes gewollt, als etwas Sinnvolles für die Gesellschaft zu tun in Form von Arbeit, Pilze zu suchen, mit Kollegen zu feiern, Nachbarschaft und Garten zu pflegen.

Meine Eltern verloren ihre Arbeit Mitte der 90er Jahre und lebten seitdem von ihren Ersparnissen, da diese aufgrund ihrer qualifizierten Tätigkeit zu DDR-Zeiten zu "übermäßig" waren. Erst 2009 waren sie alt genug, um Rente zu bekommen.

Ich hatte Glück, weil meine Beschäftigungsstelle nicht abgewickelt werden konnte.

Plötzlich lebte ich in einem Land, in dem es Obdachlose gab, deren Schicksal niemanden interessierte, denen keiner Wohnraum zur Verfügung stellte. Das Erste, was ich sah, nachdem ich im März 1990 zum ersten Mal Westberlin betrat - Obdachlose am Schlesischen Tor.

Ich lebe jetzt in einem Land, in dem es 2 Klassen von Patienten gibt, in dem medizinische Leistungen nicht mehr nach Notwendigkeit verordnet werden, sondern nach Gebührenordnung, in dem der KITA-Platz für meinen Enkel 450 € monatlich kostete, in dem sich die Miete für meine Wohnung verzehnfachte zwischen 1988 (120 Mark) und 1998 (1200 Mark).

Ich lebe jetzt in einem Land, in dem man aufgrund seiner Sozialisierung in der DDR in einem Altbundesland diskriminiert wird dadurch, dass der Universitätsabschluss nicht voll anerkannt wird und man deshalb schlechter bezahlt wird.

Ich lebe jetzt in einem Land, in dem ein Busticket in einer Großstadt 2,80 € kostet und die Monatskarte 62 €. Ich lebe jetzt in einem Land, in dem es auf dem Lande (z.B. in Niedersachsen) keine regelmäßigen ÖPNV-Verbindungen zwischen kleineren Dörfern gibt, nur Schulbusse zwischen 6.00 und 16.00 Uhr, aber nicht am Wochenende und in den Ferien. Es gibt keine Läden, keinen Arzt, keine Post .... Für die Dinge des täglichen Lebens braucht man ein Auto, um in den nächstgrößeren Ort zu fahren. Als ich dahin zog, musste ich nach 48 Jahren ohne Führerschein diesen erwerben und ein Auto kaufen, damit ich dort leben und arbeiten konnte. Es gab in meinem Ort alte Leute, die, weil nicht mehr fahrtüchtig, den Ort nie verließen. Ich bin da schnell wieder weg. Das kannte ich nicht. In der DDR hatte jede "Klitsche" einen Bahnhof oder es fuhren Busse jede Stunde. Man brauchte kein Auto. Ich hatte nicht einmal einen Führerschein.

Ich lebe jetzt in einem Land, in dem Kollegen im "Westen" ihre Vorurteile gegen "Ossis" nicht für sich behalten: "Bei euch war ja jeder zweite bei der Stasi." "Ihr habt doch eh alle gesoffen."

Ich lebe jetzt in einem Land, in dem in Größenordnungen Bahnhöfe und Schienenverbindungen stillgelegt, Reparaturbetriebe geschlossen wurden. Als ich studierte (1982-1987) fuhr regelmäßig der Städteexpress einmal diagonal durch die DDR, zweimal am Tag ohne umzusteigen von zu Hause zum Studienort, meistens pünktlich für 15,60 Mark hin und zurück. Jetzt bezahle ich 180 € und komme bei jeder Fahrt später an, mal 70 Minuten, mal 90 Minuten, mal 130 Minuten, immer auf der selben Strecke. Die letzten 4 Male war der Zug kein einziges Mal pünktlich.

Ich lebe jetzt in einem Land, dessen Armee sich an einem völkerrechtswidrigen Angriff auf ein europäisches Land beteiligte. Es wurde sogar DU - Munition verwendet.

Ich lebe jetzt in einem Land, von dessen Boden Drohnen starten, die ohne Gerichtsurteil einfach auf Verdacht Menschen in anderen Ländern töten.

Ich lebe jetzt in einem Land, dessen Regierung Menschen zum Impfen mit einem Impfstoff zwang, der laut EMA nur zum Eigenschutz zugelassen war, dessen Notfallzulassung zur Eigenimmunisierung und ausdrücklich nicht zur Reduzierung der Infektionsübertragung in der Bevölkerung erfolgte. Von Nebenwirkungen, über die wir nicht informiert wurden, will ich hier gar nicht reden. Ich habe staatlichen Stellen in Sachen Impfschutz immer geglaubt, aber jetzt traue ich niemandem mehr.

Ich lebe jetzt in einem Land, dessen Regierung die Grundrechte außer Kraft setzte, ohne Notwendigkeit, was dazu führte, dass unser Neffe, Studienanfänger in einer Großstadt, plötzlich ohne Einkommen (Gastronomie), ohne Geld für Miete, ohne persönlichen Kontakt zu Verwandten und Mitstudierenden so nicht mehr weiter leben wollte und sich nach dem 2. Lockdown von einer Brücke stürzte.

Ich lebe jetzt in einem Land, dessen Regierung in einem Krieg, der nicht der unsere ist, Partei ergreift, Waffen an eine Kriegspartei liefert (bisher im Wert von 45 Milliarden €), zuließ, dass bereits paraphrasierte Friedensverträge zwischen den Kriegsparteien von ihren "Wertepartnern" torpediert wurden, wodurch das Blutvergießen ausuferte. Ich lebe jetzt in einem Land, dessen Regierungsmitglieder Marionetten einer Großmacht sind und für deren hegemoniale Bestrebungen die Wirtschaft ihres Landes an die Wand fahren, weil sie im Auftrag der Großmacht einen Wirtschaftskrieg entfachten und terroristische Anschläge, die milliardenteure Wirtschaftsinfrastruktur zerstörten (NS), nicht aufklären. Ich lebe jetzt in einem Land, dessen Regierung im Schlepptau der Großmacht Zwietracht sät statt friedlichen Handel zu treiben zum beiderseitigen Vorteil, von internationaler Solidarität sind sie auch weit entfernt.

Ich lebe jetzt in einem Land, dessen Regierung das Friedensgebot der UN-Charta und der Präambel ihres eigenen Grundgesetzes missachtet und lieber Blutvergießen unterstützt und gutheißt statt friedensstiftend zu wirken. Ich lebe jetzt in einem Land, dessen Regierung aus der Verantwortung, die die Geschichte uns auferlegt, den Schutz Israels zur Staatsräson erhebt. Aber erwachsen nicht aus der selben Vergangenheit die Verantwortung und das Mitgefühl für 27 Millionen getötete Sowjetbürger. Müsste dann der Schutz oder wenigstens das Verständnis für die Interessen Russlands nicht auch Staatsräson sein? Was die USA nicht wollen - Atomraketen im Vorgarten - das sollten sie auch den anderen Großmächten (Russland, China) nicht antun, weil die Raketen aus dem Vorgarten in 5 Minuten deren Territorium erreichen können und ihnen keine Zeit für das Nachdenken über eine Reaktion lassen. Ist das das militärische Gleichgewicht? Russland und China mit dem NATO-Messer am Hals?

"Von deutschem Boden soll nie wieder ein Krieg ausgehen ... " Ich lebte einst in einem Land, dem dieser Satz Verpflichtung war und jetzt lebe ich in einem Land, von dessen Boden wieder Kriegswaffen und Angriffsflüge ausgehen, auf dessen Boden im Bruch mit dem 2+4 - Vertrag immer noch Atomwaffen stehen. Fremde Soldaten werden ausgebildet für den Kriegseinsatz und der wissenschaftliche Dienst des Bundestages warnt vor der sich daraus ergebenden Kriegsbeteiligung. Ich lebe jetzt in einem Land, dessen "Verteidigungsminister" seine Rolle wechselt zum Kriegsminister, der sein Land "wieder kriegstüchtig" machen will. Ich lebe jetzt in einem Land, dessen Außenministerin auf internationalem Parkett verkündet: "Wir führen einen Krieg gegen Russland.", in dem der Grüne Finanzminister Baden-Württembergs, Danyal Bayaz, am 25.2.2023 um 16:40 Uhr trotz Meldung ohne Konsequenzen über die ca. 20000 Teilnehmer einer Friedensdemonstration in Berlin twittern darf: "Was sich da Friedensdemo nennt, ist die hässlichste Fratze Deutschlands und eine Schande für unser Land." Der gleiche Minister, der in der FAZ erklärte, keiner solle mehr bei Rezession und Krise auf den Staat hoffen. Jene "Anspruchshaltung" sei "kultiviert"worden, indem "viel Geld auf alle Probleme geschüttet" worden sei. Auch sollten "soziale Projekte" wie die Rente mit 63 oder die CSU-Mütterrente "nicht in Stein gemeißelt" sein. (jw).

Stichwort Rente: Ich lebe jetzt in einem Land, dessen neoliberale Regierung beschloss, dass man bis 67 arbeiten und die Rente versteuert werden muss. Ich erlebe also jetzt, dass mein Mann mit 2 Hochschulabschlüssen und über 30 Arbeitsjahren, der die meiste Zeit den Höchstsatz in die Rentenversicherung einzahlte, aus der Rentenversicherung netto 300 € mehr als die Mindestrente erhält. "Wer nicht vorher schon arm war, für den bedeutet der Renteneintritt also eine gravierende Verschlechterung." (S.W.) Privat vorzusorgen, d.h. zu sparen, war viele Jahre überhaupt nicht möglich, zumal Banken den "zu hohen" Kontostand mit Negativzinsen bestraften und andere Modelle nachweislich Abzocke der privaten Gesellschaften waren. Die angeschaffte Immobilie entpuppte sich inzwischen aufgrund der irren Heizungsgesetzgebung der Regierung als Klotz am Bein, den man im Alter nicht mehr würde halten können.

Ich lebe jetzt in einem Land, in dem ich selbst Angst haben muss, nach 40 Jahren Arbeit, die Miete für eine halbwegs anständige Wohnung in meiner Stadt nicht mehr bezahlen zu können. Von 13 Wohnungen auf dem "freien" Wohnmarkt, die wir uns bei unserer Suche anschauten, gehörten 7 einer internationalen Finanz- oder Immobiliengesellschaft, für die Wohnungen (also Daseinsgrundlagen) Spekulations- und Anlageobjekte sind, die sofort und dauerhaft Rendite abwerfen müssen. Deshalb entpuppten sich die Mietverträge dieser Wohnungen als Indexmietverträge, die wir ablehnen mussten, weil wir rechnen können und uns klar wurde, dass wir die Wohnung in 5 Jahren nicht mehr bezahlen könnten. Die Zeit der Wohnungssuche war eine Zeit voller Existenzangst und ich frage mich, was Menschen durchmachen, die weniger verdienen als wir und demzufolge noch weniger Rente bekommen.

Ich lebe jetzt in einem Land, in dem Kliniken und Pflegeheime großen Konzernen gehören oder öffentlichen GmbHs oder anderen Trägern, aber auf jeden Fall Gewinn abwerfen müssen. Im Krankenhaus wird man dank der Fallpauschale zwar behandelt, aber nicht gepflegt oder gar geheilt und, wie in meinem Fall, nach einem Unfall sogar nicht transportfähig entlassen. Der ADAC half. Um die REHA musste ich mich selbst kümmern.

Ich lebe jetzt in einem Land, in dem 5 Millionen Kinder in Armut leben .... ohne Worte.

Ich lebe jetzt in einem Land, dessen Bundeskanzler vor einem Untersuchungsausschuss ohne Konsequenzen falsch bzw. gar nicht aussagen kann.

Ich lebte und lebe immer noch in einem Land, in dem Andersdenkende, Kritiker der Regierungsverlautbarungen zwar nicht mehr ins Gefängnis kommen, aber diffamiert, diskrediert, mundtot gemacht, entlassen und ihre Auftritte gecancelt werden.

Dafür sind wir 1989 nicht auf die Straße gegangen bzw. haben wir uns nicht in Bürgerbewegungen engagiert

Ich habe hier alles aufgeschrieben, was mir bis jetzt den Schlaf raubte.

Entsprechend dem o.g. Rat meines Bekannten müsste ich jetzt besser schlafen können.

Mal sehen.

Quellen:

meine Lebenserfahrungen,

Weserkurier, Junge Welt, Süddeutsche Zeitung, FAZ, wikipedia, nachdenkseiten, abgeordnetenwatch, freitag, GiB, X bzw. Twitter-Accounts, Wagenknechts Wochenschau, Küppersbusch TV, Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, Bundeszentrale für politische Aufklärung, www.unbekanntes-land.org, Reden und Interviews von und mit Harald Kujat, Oskar Lafontaine, Daniele Ganser, Gabriele Krone-Schmalz, Klaus von Dohnanyi...

Wer ernsthaft sucht, der findet.

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