PISA-Schock - Ursachen

Was uns die Erfahrung lehrt. Hattie-Studie, neueste Stellungnahme des Karolinska-Institutes zur Digitalisierung plus eigene Erfahrungen aus 36 Jahren.

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Seit etwa 25 Jahren beobachte ich das Absinken der Fähigkeiten meiner Schüler im Lesen, Schreiben, Rechnen und Denken in Zusammenhängen. Eine weitere signifikante Abschwächung dieser Fähigkeiten wird seit etwa 2010 sichtbar. Die Schwankungen der PISA-Ergebnisse bestätigen meine Wahrnehmungen. Die letzten Ergebnisse dieser Studie scheinen einen neuen Tiefpunkt zu markieren.

Mich verwundert das nicht, erlebe ich doch die immer weitere Verflachung der schulischen Anforderungen, die unweigerlich die Verflachung der Leistungsfähigkeit zur Folge haben muss.

Meiner Meinung nach liegen die Ursachen einerseits im immer noch mehr oder weniger drei - oder zweigliedrigen Schulsystem, obwohl vielerorts die Hauptschule als solche abgeschafft wurde zugunsten einer Oberschule oder Integrierten Gesamtschule oder einer Mischung aus beidem plus Gymnasium. D.h. die Schüler werden weiterhin ab Klasse 5 oder 7 nach ihrem vermeintlichen Leistungsvermögen einer Schulform zugeteilt, was dem Gedanken der Inklusion und der Chancengleichheit auf jeden Fall widerspricht. Von Anfang an entsteht so in der Sekundarstufe (Klassen 5-10) ein Zwei- oder Dreiklassen - System. Ein Blick auf die PISA-Ergebnisse zeigt, dass überwiegend die Länder besser abschneiden, in denen die Schüler bis Klasse 9 oder 10 zusammen lernen und erst dann den Weg zum Abitur einschlagen (z.B. Estland, Polen, Finnland, GB, ...) .

Es ist schon diskriminierend, Schüler in einem so frühen Alter einzuteilen und ihnen bestimmte Bildungsinhalte von Anfang an vorzuenthalten. In meinem langen Berufsleben (Lehrerin seit 1987) unterrichtete ich an verschiedenen Schultypen, zunächst an der Allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschule der DDR, in der Schüler von Klasse 1 bis Klasse 10 zusammen lernten mit einem polytechnischen Fächerkanon, der Werken, Handarbeit, Kunst, Musik, Sport, technische und praktische Bildungselemente sowie natürlich Mathe, Deutsch, Fremdsprachen, Biologie, Chemie, Physik, Geschichte, Erdkunde, Staatsbürgerkunde und später verschiedene Wahlpflichtfächer enthielt. Hier offenbart sich schon ein wesentlicher Mangel des bundesdeutschen Schulsystems: Es gibt nicht für alle Schüler von Anfang an durchgängig Unterricht in handwerklichen, technischen Fächern. Meist werden diese nur als Wahlpflichtkurse angeboten. Dabei ist es eine Binsenweisheit, dass handwerkliche, körperliche Betätigung einen wesentlichen Einfluss auf unsere Kognition hat. Auch Musik und Kunst werden in der Bundesrepublik stiefmütterlich in der Stundentafel behandelt. Je nach Bundesland werden Physik, Chemie und Biologie seit den 2000er Jahren nur noch epochal oder in Form eines Gemisches namens Naturwissenschaften unterrichtet. Ebensolches gilt auch für Geschichte, Politik, Erdkunde, die als Konglomerat namens GUP oder GSW oder was auch immer unterrichtet werden mit viel zu wenig Stunden. Seit den 2000er Jahren erfolgt eine generelle Einengung des Bildungsspektrums auf einen Schmalspur - Bildungserwerb. Fächerübergreifende Lehrpläne, wie in der DDR, gibt es sowieso nicht. Die Curricula der Bundesländer (z.B. Berlin, Niedersachsen, Bremen) weisen noch nicht einmal klare fortgeschriebene Bildungsziele bzw. einheitliche Bewertungsmaßstäbe auf. So wird von jeder Schule verlangt, eigene Curricula zu erstellen und jede Schule bewertet nach eigenen Vorstellungen. Fazit: Die Verengung des Bildungsspektrums, des Fächerkanons verbunden mit der Verringerung der Unterrichtsstunden für Deutsch, Mathe, Naturwissenschaften, Gesellschaftswissenschaften zugunsten von Fächern, wie Wahlpflichtkursen, Ethik/Religion/Werte und Normen, Lernen am Projekt .... sind seit den 2000er Jahren andere wichtige Ursachen für das Absacken der Leistungen.

Der Abstieg beginnt aber eigentlich schon im Kindergarten, wo es meist keine Bildungspläne für motorische, körperliche, geistige, musische Entwicklung der Kleinsten gibt. Wenigstens in der Vorschulgruppe sollte es das geben. In der KITA meines Enkels war das in Ansätzen erkennbar, aber verflachte und verwässerte sich mit den häufig wechselnden Erzieheri*innen und endete letztendlich damit, dass jeder irgendetwas nach Gutdünken machte. Bei Erziehern muss es eine Aufwertung der Ausbildung geben und natürlich eine bessere Bezahlung vergleichbar der von Lehrern. In Singapur, PISA-Spitzenreiter, werden die Kinder im Kindergarten von Lehrer*innen betreut.

Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache muss der Besuch der KITA ab dem 3. Lebensjahr kostenlos ermöglicht und auch auferlegt werden. Wenn ich mir überlege, was ich in den 60er Jahren im Kindergarten erlernte und was ich alles schon konnte, als ich 1970 in die Schule kam, dann schneidet die KITA meines Enkels schlecht ab, obwohl sie sicherlich eine der besseren war. Eine weitere wichtige Ursache für die Leistungsschwäche ist also die schlechte Vorschulbildung.

Nun könnte man sagen, in der BRD gab es früher so gut wie keine KITAS und trotzdem waren die Bildungsergebnisse besser. Das stimmt und offenbart uns den nächsten Schwachpunkt unseres Bildungssystemes - die Grundschulbildung. Als meine Tochter 1994 in Ostberlin in die Schule kam, erhielt sie noch die Fibel und Schreiblernhefte. Sie erlernte bis zum Ende der 1. Klasse das Lesen und eine Schreibschrift. Dafür muss ich dankbar sein, wenn ich jetzt sehe, dass nur 5 meiner 23 Schüler (7.Klasse) eine Schreibschrift haben. Die meisten schreiben in Druckbuchstaben ohne Einhaltung von Zeilen und Rändern. Ich musste in Klasse 5 vielen von ihnen zeigen, wie man Rand zieht, wodurch sich große und kleine Buchstaben unterscheiden, wie man in Zeilen schreibt oder eine Tabelle anlegt. Das Schreiben in Druckbuchstaben dauert ewig und die Schüler haben deshalb keine Lust zu schreiben. Ich verstehe diesen Grundschulansatz, keine Schreibschrift zu erwerben, nicht. Er mach auch didaktisch im Hinblick auf die Entwicklung der Lesefähigkeit keinen Sinn. Für die Ausbildung des Zusammenspiels von linker und rechter Gehirnhälfte, die Hand-Auge-Koordination, die Fixierung auf Wörter und Zeilen, die Entwicklung der Feinmotorik ist der Erwerb einer flüssigen Schreibschrift unabdingbar. Ganz davon abgesehen, dass sich dadurch auch Individualität ausdrückt. Weitere Fehler in der Grundschulbildung waren und sind solche "Experimente", wie jahrgangsübergreifendes Lernen (JÜL) oder Schreiben nach Gehör oder "Freiarbeit" bzw. "Lernplan" oder "Lernbüros". Letzteres mag in bestimmten Übungsphasen sinnvoll sein, versagt aber nicht nur in der Grundschule als durchgehendes, hauptsächliches Arbeitsprinzip. In der Hattie-Studie war eines der Kriterien für Lernerfolg die "direct inquiry" durch den Lehrer, d.h. die zentrale Lenkung und Leitung des Lernprozesses durch die direkte Ansprache, Vermittlung, Darstellung des Lernstoffes und Aktivierung durch den Lehrer. (Heute oft als Frontalunterricht diskreditiert.)

Das Lernen ist ein Prozess, den der Lehrer durch direktes Eingreifen steuern muss, anstatt nur Moderator und Aufgabenbereitsteller zu sein. Nur die wenigsten Schüler können sich allein Wissen aneignen und schon gar nicht digital, wie die kürzlich veröffentlichte Stellungnahme des schwedischen Karolinska-Institutes zur nationalen Digitalisierungsstrategie der schwedischen Bildungsbehörde zeigt: "Wir sind der Meinung, dass der Schwerpunkt wieder auf den Wissenserwerb über gedruckte Schulbücher und das Fachwissen des Lehrers gelegt werden sollte,... ..., dass ein hohes Maß an Computernutzung in Schulen eindeutig negativ mit den PISA-Ergebnissen in Mathematik und Lesen korreliert. ... Das Lesen und Schreiben auf einem Bildschirm hat negative Auswirkungen auf das Leseverständnis. ...Die selbstständige Suche nach Wissen im Internet nimmt viel Zeit in Anspruch, Zeit, die vom Lernen ... abgezogen werden muss ... Schüler brauchen dadurch doppelt so lange, um den gleichen Wissenstand zu erwerben.... Länder, die selbsterforschenden Unterricht einsetzen, schneiden bei PISA deutlich schlechter ab." Genau das passiert seit einiger Zeit in Deutschland, vor allem im naturwissenschaftlichen Unterricht: Schüler müssen ihre eigenen Fragen an den Unterrichtsstoff stellen, dann nach Informationen suchen und ihre eigenen Fragen beantworten. Und das bei nur 2 Unterrichtsstunden wöchentlich. Da findet kaum Wissenserwerb statt. Es ist, wie die Studien, auf die das Karolinska-Institut verweist, didaktisch Unsinn, wenn es als durchgehende Methode angewandt wird. Referendare, die ich erlebe, müssen so vorgehen. Viele verzweifeln daran, wie viel Zeit damit verplempert wird. Unpassende, zum Dogma erklärte didaktische und methodische Vorgehensweisen sind ein weiterer Schwachpunkt. Dazu gehören auch solche Unterrichtsmodelle wie Einteilung in Leistungskurse in äußerer oder gar innerer Differenzierung. Letzteres verlangt vom Lehrer, auf zwei oder drei verschiedenen Niveaus innerhalb einer Stunde und Lerngruppe zu unterrichten. Diese Modelle wurden seit 2010 in den meisten Bundesländern eingeführt im Zuge von Schulstrukturreformen, bei denen Hauptschulen und Realschulen zu Oberschulen oder integrierten Gesamtschulen gemacht wurden. Begründet wird dies mit INKLUSION und Individualisierung, wozu der Schweizer Pädagoge und Psychologe, Beat Kissling in einem Interview klare und richtige Worte fand: "Individualisierter Unterricht führt in die Sackgasse." (nachzulesen auf infosperber). Seine Aussagen decken sich voll und ganz mit meinen Erfahrungen.

Es gibt nichts Exkludierenderes und Stigmatisierenderes als die Verwendung von Lehrbüchern und Arbeitsmaterialien auf verschiedenen Niveaus innerhalb einer Lerngruppe. Wirkliche Inklusion verbietet die Einteilung in Niveaugruppen und Schultypen. Alle müssen zielgleich zusammen lernen. Schüler mit Förderbedarf müssen je nach Art dieses Bedarfes zeitweise in eigenen Gruppen unterrichtet werden. Es nützt ihnen nichts, wenn ab und zu ein Sonderschulpädagoge neben ihnen sitzt und das Aufgabenblatt erklärt. Sie haben ganz andere Bedürfnisse. Allen Schülern würde das gemeinsame Lernen mit intellektueller Herausforderung, die laut Hattie die größte Lernmotivation ist, gut tun. Für das Setzen passender intellektueller Herausforderungen ist der Lehrer zuständig, indem er erkennt, was das durchschnittliche Ausgangsniveau ist und es in Beziehung setzt zum Niveau des angestrebten Lernzieles, welches unbedingt so genau wie möglich gesetzt werden und für alle gleich sein muss. Dazu braucht ein guter Lehrer keine ständigen Vergleichsarbeiten. Sie sind nur zusätzlicher Ballast. "Die Sau wird nicht fetter, je öfter man sie wiegt.", sagte mein Opa. Die Lehrer zu befähigen, all dies zu tun, ist eine Schwachstelle heutiger Lehrerausbildung, wie ich bei der Betreuung von Referendaren und Praktikanten feststellen musste. Also auch die schlechtere Lehrerausbildung trägt zum fehlenden Lernerfolg bei, genau so wie die Überlastung der fertigen Lehrer mit Tätigkeiten, die nicht zur eigentlichen Lehrtätigkeit gehören. (Schülerdatenverwaltung, Finanzmittel für Schüler verwalten bzw. beantragen, Admin sein, Lehrpläne und Bewertungsmaßstäbe "erfinden" ..... )

Der hohe Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund und schlechten Deutschkenntnissen ist sicher ein weiterer Grund für die schlechten Lernergebnisse. Das System unserer Vorklassen für Schüler ohne Deutschkenntnisse muss unbedingt erweitert und verbessert werden.

Auch die Struktur der Verteilung dieser Schüler muss völlig geändert werden. Für wirkliche Integration und Bildungschancen muss es Obergrenzen für die Anteile dieser Schüler in Schulen und Klassen geben. Wenn alle gemeinsam lernen und das Gymnasium abgeschafft wird, entstehen wieder Klassen mit ausgewogenen Anteilen leistungsstarker, leistungsschwächerer und ausländischer Schüler. Dafür müssen gesetzliche Grundlagen geschaffen werden. In Dänemark funktioniert das.

Die Ursachen für die schlechten Lernergebnisse deutscher Schüler sind also vielfältig. Ich habe versucht, hier einen Teil davon darzustellen.

Ich muss noch 4 Jahre arbeiten, um die 40 Dienstjahre und damit die Pensionsberechtigung zu erwerben. Wenn ich die Chance hätte, an umfassenden, grundlegenden Veränderungen unseres wirklich nicht guten Schulsystems mitzuwirken, würde ich sogar bis 67 durchhalten können. Von den Verhältnissen, wie sie jetzt sind, wird mir immer mehr die Kraft dazu geraubt.

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