„Brauchen wir Ketzer?“ von Marko Martin: Mutig, auch wenn sie Angsthasen sind
Biografien Marko Martin ist ein Intellektueller mit ungeheurer Produktivität. Einer, der wehtut, stets wohltuend skeptisch bleibt, der aus Prinzip im Strom nicht mitschwimmt. In elf grandiosen Essays versammelt er „Stimmen gegen die Macht“
Die literarische Produktivität des Schriftstellers und Essayisten Marko Martin ist erstaunlich, allein die schiere Menge ist kaum zu fassen. Und dann diese immerwährende Qualität! Wie macht er das nur?! Sein Buch Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters (der Freitag 37/2019) war ein Ereignis, ein Buchdenkmal, das nicht genug gelobt werden kann. Keine Ahnung, warum der Band und sein Autor nicht mit Preisen überschüttet worden sind. Na ja, ich weiß es schon – Marko Martin ist ein Ketzer, ein Intellektueller, der wehtut, der nicht mitmarschiert, der immer wohltuend skeptisch bleibt, erfreulich unberechenbar ist und sich nicht scheut, Positionen zu beziehen.
Der neue Band „Brauchen wir Ketzer?“ schließt nicht nahtlos an D
unberechenbar ist und sich nicht scheut, Positionen zu beziehen.Der neue Band „Brauchen wir Ketzer?“ schließt nicht nahtlos an Dissidentisches Denken an, ist aber genauso grandios. Martin versammelt elf Essays über Intellektuelle: Alice Rühle-Gerstel, Anna Seghers, Stefan Heym, Ludwig Marcuse, Hermann Broch, Primo Levi, Leo Lania, Fritz Beer, Hans Habe, Friedrich Torberg und Hilde Spiel. „Sie alle waren säkulare Juden und Schriftsteller, politisch links stehend oder liberal, und – im Unterschied etwa zu Arthur Koestler oder Manès Sperber – keine prominenten ‚Exkommunisten‘.“ Sie waren Widersprechende, Flüchtende, Mutige, Ich-Sagende, Nie-Ankommende. Und doch nicht immer stark, nicht immer geradlinig.Marko Martins Stärke kommt auch in diesem Buch zum Tragen: Er nähert sich dem Leben seiner Protagonisten nicht nur über ihr Werk, sondern auch über die sie umgebende Geschichte. Er verortet zugleich ihr Werk in den großen Zusammenhängen ihrer Zeit und deren Vergangenheit. Damit macht er nicht nur die Biografien, sondern vor allem die literarischen Werke gegenwarts- und zukunftstauglich. So erschließt er das Werk von Hermann Broch – einem weltbekannten Autor, der kaum gelesen wurde oder wird – für eine breite Leserschaft. Dessen fragmentarische Massenwahntheorie, unter dem Eindruck der Pogrome 1938 begonnen, bis zum Tod 1951 nicht vollendet und erst 1979 publiziert, hat von ihrer inspirierenden Aktualität (leider) nichts verloren. Denn Broch sieht im nationalsozialistischen Terror eben nicht nur die unleugbare Einzigartigkeit, sondern auch ein Grundmotiv, das sich im Terror, im Massenwahn des selbsternannten Mainstream gegen die als nicht dazugehörig Deklarierten zeigt.Sie müssen Ketzer seinDas überraschendste Stück im Buch handelt von Anna Seghers. Marko Martin gelingt es auf eine anrührende Weise, die weltberühmte Schriftstellerin in all ihren Facetten zu beschreiben, ohne dass er sie überzeichnet oder abwertet. Das ist bei Seghers fast ein Kunststück. Aber Martin gelingt noch mehr: Seghers’ Wirken in der Welt und für die Welt gerät unter seiner Hand zu einem Stück intellektueller Globalgeschichte Mitte des 20. Jahrhunderts. Wie Marko Martin deutsche und europäische Geschichte, die Geschichte der Karibik und Mittelamerikas, Exil- und Verfolgungsgeschichte, Kommunismus- und Liberalismusgeschichte miteinander verwebt – zuweilen in einem Satz –, ist erstaunlich, ja atemberaubend.Das heimliche Glanzstück des Bandes ist vielleicht der Essay über Stefan Heym. Hier zeigt sich Martins Meisterhand: Mit überraschend persönlichen Bezügen zeichnet er einen Schriftsteller, einen Autor, der weitaus widersprüchlicher erscheint als gemeinhin gemalt und wahrgenommen, dabei weitaus nahbarer, gerade auch, weil Martin Heyms großes Gesamtwerk in diesem längsten Beitrag des Bandes fast nur am Rande streift. Natürlich, der großartige König David Bericht spielt eine wichtige Rolle, aber auch in diesem Essay nimmt Martin den Intellektuellen wichtiger als den Schriftsteller, der nur einen Teil des Intellektuellen ausmacht.Ja, Intellektuelle müssen Ketzer sein, wider den Strom schwimmen, auch wenn sie zuweilen Angsthasen sind. Sie schwimmen aber nicht immer gegen etwas an. Woher sollten sie auch die Kraft nehmen? Die meisten sind nicht aus Passion dagegen, sondern aus Überzeugung dafür, meist für Freiheit – und doch, Seghers und Heym sind gute Beispiele dafür, auch mit ihren Beschränkungen, die ihnen ihre Zeit auferlegte. So mutig sie oft waren, so stark bleiben sie eben doch Abbilder ihrer Zeit, nur etwas hervorgehobener als andere.Marko Martins große Leistung besteht darin, die Einzigartigkeit seiner Protagonisten herausgearbeitet zu haben, ohne sie zu überzeichnen. Es sind für ihn Seismografen ihrer Zeit, feinfühlig, vorausschauend und doch keine Götter.Es ist eines jener Bücher, wie Dissidentisches Denken, die „man“ gelesen haben muss, um halbwegs mitreden zu können. Und so spannend! So klug! So liebevoll! So einnehmend! Woher nur soll ich die ganze Zeit nehmen, um das eine wieder zu lesen und das andere überhaupt erstmals zu lesen? Also, liebe Leute, falls es noch nötig ist: Lest das Buch. Unbedingt! Besser noch heute als erst morgen! Es gäbe viel zu verpassen.