Auf dem schmalen Grat der Gefühle

Davos Wenn Politiker aus der Rolle fallen, oder: Das kalkulierte Spiel der Emotionen. Über den Wutausbruch des türkischen Premier Tayyip Erdogan auf dem Weltwirtschaftsforum

Wie ehrlich sind spontane Gesten in der Politik? Diese spannende Frage konnte man vergangene Woche wieder einmal begrübeln, als der türkische Premierminister Tayyip Erdogan mit hochrotem Kopf von einem Podium des Davoser Weltwirtschaftsforums aufsprang, Israels Staatspräsident Shimon Peres beschimpfte und schnurstracks nach Hause flog. Erdogan gilt als aufbrausend. Seine zornigen Tiraden, selbst gegen die eigenen Landsleute, sind legendär. Doch war der Schweizer Ausfall, der weltweit Schlagzeilen machte, wirklich ganz so spontan, wie er aussah?

Zynisch, berechnend, eiskalter Stratege – so oder ähnlich lauten die Urteile, wenn die Charaktereigenschaften von Politikern abgefragt werden. Fällt doch mal einer aus der Rolle, ist die Aufregung groß. Selbst manch eingefleischter Antikommunist erinnert sich mit einer gewissen Sympathie an Nikita Chruschtschows legendären Ausbruch vor der UNO-Vollversammlung 1960 in New York. Der KPdSU-Generalsekretär zog sich den braunen Halbschuh vom Fuß und hämmerte damit auf den Tisch, nachdem ihm die philippinische Delegation vorgeworfen hatte, in der UdSSR würden die Menschenrechte verletzt. Als Helmut Kohl 1991 in Halle Eierwerfer, die nicht ganz so zufrieden mit dem Kanzler der Einheit waren wie dieser selbst, eigenhändig zur Rede stellen wollte, äußerte selbst Joschka Fischer spontan Verständnis für dieses Zeichen unverstellter Authentizität.

Schmal ist der Grat zwischen intuitiv und inszeniert: Dem Emigranten Willy Brandt nahm man den Kniefall vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos 1970 in Polen als spontane Büßer-Geste ab. Doch er beherrschte auch das Kalkül, wie man sehen konnte, als er 1985 den damaligen CDU-Generalsekretär Heiner Geißer im Fernsehen den „schlimmsten Hetzer seit Goebbels“ nannte. Und aus dem scheinbar spontanen Ausbruch Gerhard Schröders gegen die verdatterte Angela Merkel am Abend der knapp verlorenen Bundestagswahl 2005 lasen abgebrühte Beobachter das durchaus rationale Kalkül des Noch-Kanzlers, seiner SPD wenigstens den Spitzenplatz in der unvermeidlichen Großen Koalition, die dann folgte, herauszuboxen.

Der Löwe von Davos

Auch Erdogan wandelt auf diesem Grat. Noch auf dem Flughafen ließ sich der Premier nach seiner Rückkehr aus der Schweiz von aufgeheizten Anhängern als „Löwe von Davos“ feiern, der es dem Westen mal gezeigt hat. Der Sympathie im Nahen Osten konnte sich der selbsternannte Verteidiger der Palästinenser sicher sein. Erdogans Frau Emine mischte mit im kalkulierten Spiel mit den Emotionen. Seit Wochen zitiert die fromme Muslima im türkischen Fernsehen unter Tränen Verse Nazim Hikmets – ein Kommunist, der 1963 im Moskauer Exil starb – um an die getöteten Frauen und Kinder in Gaza zu erinnern.

Das mag ehrlich gemeint sein. Hinter der Rührung, die das Land ob des öffentlichen Weinens der First Lady ergriff, verschwindet freilich die Erinnerung an einen hausgemachten Krieg. Seit Monaten deckt die Regierung ihres Mannes die brutalen Angriffe des türkischen Militärs gegen die rebellischen Kurden im Südosten des Landes und im Norden des Irak. Erdogan hatte Peres in Davos angeschnauzt: „Vom Töten versteht ihr ja was“. Ganz ohne Erfahrung ist die Türkei in diesem Handwerk aber auch nicht. Auf einen Wutausbruch Erdogans über die Feldzüge des eigenen Landes wartet man bislang allerdings vergebens.

Schon klar: Politik ist ein Zwangssystem. Verständlich, dass man daraus ausbrechen möchte. An jedem Stammtisch wünscht man sich, Politiker sollten „mehr Gefühle“ zeigen. Aber merke: Nicht jeder, der in der Politik emotional aus der Rolle fällt, ist deshalb ein ehrlicher Rebell gegen die Verhältnisse.


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