Die Stunde des Spiels

Ypsilanti Volker Zastrows Buch "Die Vier" rekonstruiert anschaulich das Drama um den Sturz Andrea Ypsilantis, bekräftigt aber nur die Stereotypen der Politikverdrossenheit

Was haben Andrea Ypsilanti und Horst Schlämmer gemeinsam? Die Frage mag lächerlich klingen. Größere Gegensätze als diese beiden scheinen schwerlich vorstellbar. Hier die reale Leitfigur einer scharfen Linkswende der SPD. Eine Frau, die Ministerpräsidentin werden wollte, aber an der eigenen Partei scheitert. Da die Kunstfigur der Politikverarschung, die im Film Bundeskanzler werden will und im realen Leben auf Anhieb achtzehn Prozent der Bevölkerung hinter sich versammelt. Frauenpower gegen Hasenpower. Und doch eint beide eine Art naiver Machtwille, der sich in dem Satz ausdrückt: Isch kandidiere.

Macht macht mich an. So lautet der Titel, den Schlämmers First Lady, Alexandra Kamp ihrem ersten Buch gegeben hat. Die Erotik der Macht, die Schlämmer bei einer ihrer Lesungen verspürt, bringt den stellvertretenden Chefredakteur des Grevenbroicher Tageblatt, der gerade eine Interviewserie zur Bundestagswahl macht, auf die Idee, selbst in die Politik zu gehen: "Die kochen doch auch alle nur mit Wasser". Und letztlich läuft in es in dem Buch des FAZ-Politikchefs Volker Zastrow über den Aufstieg und Fall der Andrea Ypsilanti und der vier Abweichler, die in einer Aufsehen erregenden Aktion ihre Wahl verhinderten, genau darauf hinaus – Macht, Macht und nochmals Macht.

Irgendwann, so die Idee des Frankfurter Journalisten, muss der reine Machtwille diese bis dato unauffällige Quotenfrau gepackt haben, dass sie sich auf das waghalsige Unternehmen eingelassen hat, sich auf die Stimmen einer Partei stützen zu wollen, die sie mit dem klaren Wahlversprechen: "Nicht mit der Linkspartei!" klein halten wollte. Und deren Personen und Programm sie bis zum Schluß kaum kannte.

Wenn Zastrow schreibt: "Der Ehrgeiz siegte", fühlt man sich an die Parteienschelte des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker erinnert. Das Innere der SPD, in das Zastrow führt, steht hier pars pro toto: Politik als um sich selbst kreisendes System, bar der Inhalte: "machtversessen und machtvergessen", wie Weizsäcker einst befand.

Politik als Kampfsport

Insbesondere so, wie Ypsilantis Rivale, der smarte, standpunktlose Jürgen Walter "Politik als Kampfsport" (Zastrow) betrieben hat, muss das die Ermächtigungsphantasien des Durchschnittsspießers à la Schlämmer beflügeln. Und wenn es selbst die verschlossene Frau Ypsilanti geschafft hat, so gut zu schauspielern, dass die Leute auf den Tischen stehen vor Begeisterung, schaffen wir das auch. Kein Wunder, dass Horst Schlämmer auf dieselbe Idee kommt, die Zastrow Walter als üblen Vorsatz unterstellt: Eine eigene Partei zu gründen, um auch mal an die Fleischtöpfe der Macht zu kommen. Das Spiel beginnt.

Zastrows Die Vier verdanken wir einen Einblick in den zeitgenössischen Politikbetrieb, der an Anschaulichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. In die Psychologie seiner Akteure, in den Binnendruck des Systems, aber auch in seine Interieurs. Vor allem aber in die Milieus der langsam zerfallenden Sozialdemokratie: Von dem "Museum der Ideale" in der Altbauwohnung des SPD-Unterbezirksvorsitzenden Gernot Grumbach im Frankfurter Westend über die "aschgrauen Abgeordnetenbüros, wo sich der Staub seit den siebziger Jahren auf den Blättern der Gummibäume zu sammeln schien und alle Bäume so aussahen als seien sie auf Grumbach abgestimmt" bis zur privaten Wohn-"Höhle" der Landtagsabgeordneten Silke Tesch in dem Hügeldorf Kleingladenbach in Nordhessen. Allein diese erfahrungsgesättigten Bilder, die wohl nur einem intimen Kenner der hessischen Szenerie gelingen konnten, rechtfertigen die Lektüre des Buchs.

Das seine Überzeugungskraft der Nähe zum Geschehen verdankt. Zastrows Technik, ganz nah auf die Menschen zu zoomen, erinnert an den Band Machtwechsel, mit dem der Berliner Historiker Arnulf Baring 1982 akribisch den Wechsel von der großen Koalition zur sozialliberalen Koalition von SPD und FDP nachzeichnete. Baring konnte damals einige Zeit das politische Geschehen in Bonn auf Einladung Walter Scheels aus nächster Nähe, vom Präsidialamt in der Villa Hammerschmidt, aus verfolgen. Das 800 Seiten starke Werk entzweite seinerzeit die Politologenzunft. Es kam ohne Literaturliste und Fußnoten aus und präsentierte einfach nur spannend erzählte Zeitgeschichte. Seinem Lehrer aus Berliner Studententagen dankt der 1958 geborene Zastrow ausdrücklich im Nachwort.

Und hat es ihm nachgetan: Jedenfalls meint man neben der Nüsschen kauenden Dagmar Metzger an der Tankstelle in Süddeutschland zu stehen, als sie sich mit Silke Tesch und Carmen Everts nach der alles entscheidenden Pressekonferenz in die Schweiz flüchtet, um Abstand von dem Psychodrama gewinnen, in das sie mit ihrer Verweigerung geraten ist. Und es braucht nicht die Kulissen von Berlin oder Washington, von Weißem Haus oder Kanzleramt, um das Drama von Machterwerb und Machtverlust so plastisch vor Augen zu führen, wie es ein zeitgenössischer politischer Roman selten vermochte.

In Silkes Höhle

Ein Geschehen von Shakespeare’schem Format spielt sich in den Kulissen der hessischen Mittelgebirge ab; in Turnhallen und Lokalen, die "Bauernschänke" heißen. Wenn man Everts kurz vor der legendären Pressekonferenz im Nachthemd am Küchentisch in Silke Teschs "Höhle" sitzen und wie weiland Macbeth kurz vor dem Mord an König Duncan im schottischen Cawdor Castle entnervt das Für und Wider ihrer Verweigerung durchkauen und unendliche Gewissensqualen leiden sieht, denkt man: Königinmörderinnen in Kleingladenbach.

Trotzdem fragt man sich bei der Lektüre gelegentlich, ob sich der immense Aufwand gelohnt hat, all diese Begebenheiten so minutiös nachzustellen. Zastrow hat Berge von Material gesichtet. Tausende von E-Mails gecheckt, unendlich viel Gespräche geführt. Dieses Buch ist eine unglaubliche Fleißarbeit, die den größtmöglichen Respekt abnötigt. Und durch Zastrows Darstellungskraft an vielen Stellen geradezu literarische Qualität gewinnt. Am Ende aber wird mit dem Satz: "Politik ist schon ein seltsames Spiel" nicht viel mehr als ein altes Stereotyp der Politikverdrossenheit bekräftigt.

Sonderermittler Zastrow gelingt es nachzuweisen, dass Ypsilanti, die sich im Wahlkampf als die ehrliche Haut gegen den fiesen Ränkeschmied Roland Koch profilieren konnte, relativ zielstrebig auf das hinarbeitete, was später in den alles verzehrenden Medien-Strudel "Wortbruch" mündete. Das untermauert seinen Ehrgeiz-Vorwurf. Doch so, wie er "Politik" ganz und gar auf Personen zuschneidet, verliert er die ideologischen Triebfedern der Politikwende in der hessischen SPD aus den Augen, die es ja auch gegeben haben muss.

Bei ihm wird das Ypsilanti-Mantra "Soziale Moderne und Energiewende" zu einer bloßen Requisite von rabulistischen spin-doctors, das nur dazu diente, Rache an dem Erzfeind Roland Koch zu nehmen, beziehungsweise seine Gegnerin zu pushen. Genau hier greift seine Darstellung personalistisch zu kurz.

Man merkt Zastrow an, dass er Partei ist für eine Mitte-Rechts-SPD, wie sie die berühmten "Seeheimer" (vormals: Kanalarbeiter) im Sinn haben: Bodenständig, "weltverwurzelt", mitten im Leben. So wie Silke Tesch. Die Frau, der seit dem achten Lebensjahr ein Bein fehlt. Die den Familienbetrieb weiterführt, als ihr Mann, ein Dachdecker, von der Leiter fällt. Eine, die sich nach oben gekämpft hat, nie eine Behinderung hat anmerken lassen, nah dran an den Menschen ist und nicht viel auf die Theorie gibt, die die Politologen im Frankfurter Unterbezirk mit Politik verwechseln.

Der "Apo-Stil"

Das sind nicht die einzigen Motive Zastrows: Ganz auf der Argumentationsschiene des "antitotalitären Konsenses" bemüht sich der konservative Journalist, der sich als Kämpfer gegen das "Gender-Mainstreaming" einen Namen gemacht hat, auch das Berlin der Mauerzeit, in dem Dagmar Metzger aufwuchs, mit der Linkspartei heute in Deckung zu bringen. Und ist sich nicht zu schade für ein paar subtile Schläge unter die Gürtellinie. Etwa, wenn er Willy Brandt vorwirft, im Bundestagswahkampf von 1972 den "APO-Stil" in die Politik überführt zu haben.

Doch das Plädoyer für den Erhalt der Mitte-Rechts-Sozialdemokratie mit "Sinn für Maß und Mitte", das er mit seinem Buch auch im Sinn gehabt haben mag, scheint nicht zu verfangen. Frank-Walter Steinmeier, der gegenwärtige Machtaspirant der SPD, ist eigentlich der Mann der gemäßigten Sozialdemokraten. Schließlich hat er Kurt Beck mit aus dem Weg geräumt, der Andrea Ypsilanti zu folgen begann. Inzwischen ist "der Frank" aber ein ähnlich aussichtsloser Kandidat wie zu Beginn ihres Wahlkampfes "die Andrea". Und hat ganz offenbar aus dem hessischen Drama gelernt.

Um nicht in derselben Sackgasse wie die zwischenzeitlich in der Versenkung verschwundene Ypsilanti zu landen, hat Steinmeier die Türen zu der Rot-Rot-(Grün)-Option im Vorfeld der Landtagswahl ein Stück geöffnet. Hauptsache es gibt hier und da einen kleinen Machtwechsel. Gewissensbisse scheint der Frank bei diesem Strategiewandel nicht gehabt zu haben.

Zastrow will eine moralische Kategorie in die Politik einführen, wenn er deren Zynismus mit den Worten geißelt: "Wer lange genug in der Politik mitgemischt hatte, dem erschien die Idee, dass man sein Wort hält, kindlich naiv wie der Glaube an den Weihnachtsmann: Nicht politikfähig". Doch liegt die Logik dieser Kategorie wirklich so klar auf der Hand? Anders gefragt: Würde auch Steinmeier notwendig zur Symbolfigur einer unehrlichen Politik, wenn er sich im Herbst in Berlin mit den Worten an unerwartete Mehrheitsverhältnisse anpasst: "Isch kandidiere"?

Volker Zastrow Rowohlt Berlin, Berlin 2009, 416 S., 19, 90 E

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden