Anfang der Achtziger war das noch anders, aber „als junger Schwuler kommt man heute ohne entsprechende Literatur durchs Leben, da es im Fernsehen und Internet genug Identifikationspersonen gibt“, erzählt Thomas Ott. „Früher war man als Außenseiter viel stärker als heterosexuelle Menschen auf Bücher angewiesen, das war lebenswichtig.“
Thomas Ott leitet seit September 1983 die Stuttgarter Buchhandlung Erlkönig, die seit 1998 unweit des Rotebühlplatzes ansässig ist. Auch wenn er den Erlkönig als „schwulen Buchladen“ bezeichnet, so hat er sich von Beginn an auf LGBTQ-Inhalte spezialisiert. Heute sei die lesbische Ecke größer als früher, sagt der Buchhändler, man habe in den Achtzigern nicht mit den lesbischen Buchläden konkurrieren wollen. „Generell ist der Erlkönig eine Anlaufstelle für sexuelle Minderheiten und abweichende Gruppen; die wenige Literatur, die es damals zu Trans*-Themen gab, hatten wir vor dreißig Jahren schon im Programm.“
Zwei Monate im Koma
In der Stuttgarter Schwulenbewegung spielte der Erlkönig eine elementare Rolle. Dabei war die Gründung des Buchladens eher dem Zufall geschuldet. Inspiriert von zahlreichen Besuchen in Berlin sah der ursprüngliche Gedanke vor, ein Café zu eröffnen, eine Begegnungsstätte nicht nur für die LGBTQ-Szene, sondern generell für nicht genormte Klientel.
„In Stuttgart gab es nie einen Schwulenbezirk. Und auch fern der Schwulenszene war die Alternativkultur sehr überschaubar“, erinnert sich Ott. Im Westen der Stadt, ein im Verhältnis zur damaligen „CDU-Stadt“ Stuttgart eher alternatives Viertel, fanden die hiesigen Schwuleninitiativen schließlich eine Location, um das Café Jenseitz zu gründen. „Es handelte sich dabei allerdings um zwei nebeneinanderliegende Objekte, die beide gemietet werden mussten“, so Ott. Also entschloss sich der Studienabbrecher spontan dazu, im zweiten Laden einen schwulen Buchladen zu eröffnen, der zu dem Zeitpunkt fünfte in Deutschland.
„Mir ging es gar nicht primär um den Buchverkauf, sondern um Emanzipation. Du konntest nicht einfach in eine Stadtteilbuchhandlung gehen und nach schwulen Büchern fragen.“ Die meisten Nachbarn im Stuttgarter Westen nahmen Jenseitz wie Erlkönig gut auf. Doch es gab auch Gegenstimmen: „Einige Eltern bläuten ihren Kindern ein, auf dem Schulweg nicht auf unserer Straßenseite zu laufen und stattdessen einen Umweg in Kauf zu nehmen.“ Als 1985, zwei Jahre nach der Eröffnung, wenige Meter entfernt in der Schwabstraße die Aids-Hilfe gegründet wurde, war sich die Bild-Zeitung nicht zu fein für eine Schmutzkampagne. „Wir wussten damals selbst nicht: Ist das wirklich eine Schwulenseuche und wenn ja, wie sollen wir uns schützen?“, erklärt Thomas Ott. Trotz der vielen Vorurteile habe die öffentliche Debatte über HIV langfristig aber die Toleranz gefördert. „Das Positive war: Auch Heteros wurden dadurch informiert, wie beispielsweise Analverkehr funktioniert. Insgesamt gab es viele Aufklärungswellen und an Aids erkrankte Promis wie Rock Hudson oder Freddie Mercury, die eine ganz andere mediale Aufmerksamkeit bekamen, trugen zur Solidarisierung bei.“
Eine ganz persönliche Form der Solidarität erfuhr Thomas Ott im Jahre 1987, als er einen schweren Schicksalsschlag erleiden musste. Nachdem er von seiner Frau verlassen wurde, steigerte sich ein Anwohner in die schizophrene Wahnvorstellung herein, jeder würde ihn für schwul halten. Um zu „beweisen“, dass das nicht stimme, stach er in der Buchhandlung mehrfach auf Thomas Ott ein. Zwei Monate lang lag dieser im Koma, fast ohne Aussicht, jemals wieder aufzuwachen. „Ich habe eine unglaubliche Solidarität von anderen schwulen Buchhandlungen, allen voran denen aus Berlin und Hamburg, erlebt“, sagt Ott. „Bereits am nächsten Tag war jemand da, der einsprang.“ Schließlich wurde ein Kunde gefunden, der den Laden in Otts Abwesenheit weiterführte. „Ich konnte über ein halbes Jahr nicht arbeiten“, berichtet der Buchhändler. „Andere hätten unter diesen Umständen schließen müssen.“ Und mit leisem Schmunzeln fügt er hinzu: „Der Laden war danach sogar aufgeräumter als vorher!“
Auch parat: Gift und Galle
Auch wenn sich die Zeiten geändert haben mögen: Seit jenem Tag vor gut dreißig Jahren arbeitet Ott nicht mehr alleine. 1998 zog er mit dem Erlkönig schließlich in Citylage, in die Nesenbachstraße, um. Die Miete im Westen war zu hoch geworden. Seit einigen Jahren ist es für ihn aber auch hier schwierig geworden, die Miete des jetzigen Objekts zu bezahlen. Mehr noch als „gewöhnliche“ Buchhandlungen merkt er die Konkurrenz des Internets.
„Als junger Schwuler benötigte man früher auf der Suche nach Identifikation und nach generellen Infos über das Schwulsein natürlich schwule Buchläden, auch wenn man selbst nicht las: Man wusste als Schwuler in Stuttgart, dass es den Erlkönig gibt.“ Heute ist dies durch die vielen Gleichgesinnten im Internet nicht mehr nötig. Zudem sei das Lesen von LGBTQ-Literatur damals ein politischer Akt gewesen. „In den Siebzigern und Achtzigern war die Schwulenbewegung links und politisch“, beschreibt Thomas Ott die alten Zeiten. Doch die Bewegung pragmatisierte sich, so wurden Schwulenvereine oder lesbische Chöre gegründet. „Damit hatte sich die revolutionäre Attitüde erledigt, zumindest im emanzipatorischen Sinne.“ Filme und Serien wie Sex and the City trugen und tragen dazu bei, ein bestimmtes Bild der Schwulen zu prägen. „‚Anständige, normale‘ Homos sozusagen sind in der Mitte der Gesellschaft heutzutage akzeptiert“, solange sie ein heteronormatives Leben mit Haus, Hund und festem Lebenspartner führten. „Das ist nicht das, was wir damals gewollt haben.“
„Ich bin nicht gegen die Ehe, ich lebe selbst seit vierzig Jahren in einer Beziehung, aber unsere Idee war doch eigentlich, die Gesellschaft zu verändern.“ Dieser Wandel der Ziele und Einstellungen schlägt sich auch im Buchverkauf nieder: Sehr populär ist die sogenannte Gay Fantasy Romance, bei der sich Männer (vergleichbar mit dem Twilight-Hype) in Vampire oder Gestaltenwandler verlieben. Ott nimmt’s aber gelassen: „Wir sind ein schwuler Buchladen, wir haben alles an schwuler Literatur.“ Er schreckt auch nicht davor zurück, unter dem Motto „Gift und Galle“ homophobe Werke anzubieten. „Ich achte natürlich darauf, wer das kauft. Aber man kann nicht den Kopf in den Sand stecken und sagen: Das gibt es nicht! Wer im LGBTQ-Bereich politisch aktiv ist, sollte sowas gelesen haben.“
Wichtig ist Thomas Ott zu betonen, dass wie in jeder Buchhandlung bei ihm alle lieferbaren Bücher bestellt werden können. „Wir wollen die Leute dazu ermutigen, beispielsweise auch ihre Kochbücher bei uns zu kaufen.“ Denn ohne Neukunden wird die Buchhandlung wohl schließen müssen. Sieben schwule Buchhandlungen gab es einst in Deutschland. Jetzt sind es, den Erlkönig eingerechnet, nur noch zwei. Im letzten Jahr setzte Ott deswegen eine Art Hilferuf in den Lokalmedien ab. Zumindest kurzfristig zeigte das Wirkung: „Es kamen wieder mehr Kunden, sowohl neue, die uns noch nicht kannten, als auch alte Stammkunden, die sich für ihre lange Abwesenheit entschuldigten.“ Ob das reicht, um den Erlkönig langfristig zu retten, wird sich zeigen.
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