Tausend Tode schreiben

E-Book Das Projekt von Christiane Frohmann versammelt 1000 Texte von 1000 Autoren zu einem Werk: Jeder schreibt aus seiner Sicht über den Tod.

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Tausend Tode schreiben

Foto: Matt Cardy/AFP/Getty Images

Tausend Tode schreiben. Tausend. Die Zahl wird zwar vertraut, ist aber trotzdem fast unüberschaubar. Ob tausend Schüler auf dem Pausenhof, Märchen aus 1001 Nacht oder ein 1000er Puzzle: Auf den ersten Blick sieht die Menge immer unglaublich viel aus. Die Bibel weiß das schon seit langem, denn in den Texten des Alten Testamentes steht die 1000 für „unermesslich viel“.

Tausend Tode schreiben: Das ist ein Projekt, in dem 1000 Autoren 1000 kurze Texte über den Tod schreiben. Ob Fiktion, Erinnerung, nüchterne wissenschaftliche Betrachtung oder Lyrik – jede Annäherung ist eine individuelle. Das Projekt von Christiane Frohmann ist ein Mammutwerk, dessen dritter Teil am 16. 2. erscheint. Der vierte und letzte Teil soll dann am 13. März, rechtzeitig zur Leipziger Buchmesse erscheinen. Wer eine der früheren Versionen bereits gekauft hat, bekommt die neuen jeweils gratis: https://minimore.de/shop/christiane-frohmann-hg-tausend-tode-schreiben/

Die Nr. 335 ist von mir.

Der Erlös dieses E-Books wird komplett an ein Berliner Kinderhospiz gespendet. Die 4,99 Euro dafür sind gut angelegt, auch wenn jemand nicht gerne über den Tod lesen sollte. Zwar erzählen viele der kurzen Geschichten von Ereignissen, die tatsächlich so passiert sind, doch es gibt auch andere Formen der Annäherung. Immer, wenn ein Mensch geboren wird, tritt auch der Tod dazu. Im E-Book wird dieser wie in einem Kaleidoskop betrachtet, facettenreich – und doch immer wieder anders. Und dass der Tod an sich spannend ist, lässt sich nicht leugnen, gäbe es doch keine Krimis ohne ihn.

Text Nr. 335

Dass du jetzt in der Bildzeitung stehst, als Nachricht, dass du das geschafft hast, so hat mir dein Onkel, mein Vater, am Telefon erzählt, dass es dich nicht mehr gibt, dass du tot bist. Du hast dich, nein, nicht selbst erschossen, sondern erschießen lassen, von jemandem, mit dem du dich per E-Mail verabredet hast, bist hinausgegangen an diesem Morgen, die Amseln haben krakeelt, hast du das gehört, ein letzter Blick zurück, hoch zu deinem Fenster, was hast du dir dabei gedacht, so das letzte Mal deine Zimmertür zu schließen, leise, damit du deine Mutter nicht störst, die Wohnungstür hinter dir zuzuziehen, aufpassen, dass das Schloss auch wirklich einschnappt, die Treppe hinunter, die Haustür fiel wie immer mit diesem satten »Klonk« hinter dir zu, doch für dich heute zum letzten Mal, die Straßen hinab, auf dem gleichen Weg, auf dem du sonst in die Uni mit deiner Tasche, die Tasche hattest du auch wirklich dabei, aber nur, damit deine Mutter, falls sie aus dem Fenster gucken und dich sehen würde, hast du eigentlich daran gedacht, wie deine Hündin jetzt ohne dich leben soll, die, auf die du so stolz warst, weil sie in ihrer hündischen Ergebenheit dir überall gefolgt ist, du hast sie zurückgelassen, hast ihr gesagt, dass sie sich in ihren Korb legen und dort bleiben soll, obwohl du sie sonst überall hin mitgenommen hast, nur heute nicht, du wolltest nicht, dass sie dich sieht, und damit einen Schock bekommt, sie soll glücklich ihr Hundeleben weiter genießen, ohne dich, deine Mutter wird mit ihr um das Haus gehen, sie können sich trösten, aber du bist dir sicher, dass dich niemand vermissen wird, wie bei deinem Vater, als er sich aus dem Fenster gestürzt hat, als du noch ein Baby warst, du weißt davon nichts, hast dich gesehnt, nach dem, was dir fehlt, deine Mutter hat dir alles erzählt, du hast mit ihr deine Tanten besucht, die nichts von euch wissen wollten, vielleicht warst auch nicht du gemeint, sondern es war deine Mutter, die nicht willkommen war, die den Bruder genommen, sag mal, hat dir mal jemand gesagt, dass du hübsch bist, dass du richtig gut aussiehst, hattest du eigentlich einen Freund, jemanden, in den du so richtig verknallt warst und der dich nicht sitzen gelassen hat, wegen einer anderen, aber da gibt es doch noch mehr Menschen auf dieser Welt, du hättest sie doch finden können, als wir uns jedenfalls das erste und einzige Mal in unserem Leben gesehen haben, sprachen wir nicht miteineinander, du konntest nicht und ich wollte nicht, was will eine 16jährige mit einem plärrenden Kleinkind anfangen, gezeugt vom Onkel, der sich, wie gesagt, aus dem Fenster und jetzt gehst du zum letzten Mal deinen Weg, den zur Uni, doch nach zweihundert Metern eben nicht nach rechts, zur Bahn, sondern nach links, in den Park, gehen Selbstmörder eigentlich immer in den Park, und du triffst dich, nein, er trifft dich, sag, hat er dir die Pistole auf die Stirn oder ans Ohr, hast du den Schuss noch gehört, hat es geschmerzt, oder war alles schwarz – aus.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

jaelle katz

Journalistin, Bloggerin und Lebensgenießerin. Ich bin auf www.schreibreise.com unterwegs, lebe in Oberfranken, liebe Katzen und gehe gerne wandern.

jaelle katz

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