Der Judenhass in fetten Großbuchstaben

Antisemitismus In einem Vortrag an der Berliner Humboldt Universität exponierte Matthias Küntzel die Weigerung „der Linken, den islamischen Antisemitismus in den Blick zu nehmen.“

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Nazis und der Nahe Osten - „Antisemitismus (kann) unter den 15 bis 22 Millionen in Europa lebenden Muslimen nicht auf Ausnahmen reduziert werden, sondern (ist) so weit verbreitet, dass Judenhass oft die Norm bildet.“ Mit dieser Einschätzung von Günther Jikeli argumentiert Matthias Küntzel in seiner historischen Bestandsaufnahme „Nazis und der Nahe Osten“. In einem Vortrag an der Berliner Humboldt Universität exponierte Küntzel die Weigerung „der Linken, den islamischen Antisemitismus in den Blick zu nehmen.“ „Die migrantische Täterschaft“ besitzt als Topos in einem mehrheitsgesellschaftlichen Diskurs der Verdächtigungen gleichwohl eine verlässliche Repräsentanz. Sobald es aber um Antisemitismus geht, so Christian Geyer - und mit ihm den Geyer zitierenden Küntzel, herrsche eine Tendenz der Relativierung und Kontextualisierung von Täterschaften, „bis sie unsichtbar geworden sind, damit nur kein fremdenfeindlicher Zungenschlag aufkommt“.

Matthias Küntzel in der Humboldt Universität

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Französische Verhältnisse

Der Politikwissenschaftler Matthias Küntzel beginnt mit einer Kurzanalyse der toxischen Ladung des Attentäters von Halle. Zwar sei des Hallenser Hass umfassend, aber Juden bildeten das Herzstück. Was anderenorts im Pamphlet klein und kursiv gesetzt sei, der schlichte, primär islamophobe Rassismus und Antifeminismus, umspielt den Judenhass in fetten Großbuchstaben.

Matthias Küntzel, „Nazis und der Nahe Osten“, 19.90 Euro, Hentrich & Hentrich, 269 Seiten, 19.90 Euro

Küntzel erinnert daran, dass in den letzten Jahren über zwanzigtausend französische Juden nach Israel ausgewandert sind - so wie viele ihre angestammten Bezirke verließen, um in einer weniger antisemitischen Umgebung weiterzumachen wie nie zuvor. Der islamische Antisemitismus, so Küntzel, entfaltet eine prägende Kraft. In Kombination mit dem europäischen Antisemitismus ergibt sich daraus eine ständig heruntergespielte Gefahr.

In „Nazis und der Nahe Osten“ untersucht Küntzel ein Phänomen des 20. Jahrhunderts: die Verkopplung zweier antisemitischer Modelle, die zum islamischen Antisemitismus führten. Zum Gründungsmanifest des islamischen Antisemitismus erklärt Küntzel die 1937 in Kairo erstmals publizierte Schrift „Islam und Judentum“. Darin wird der Judenhass im Koran als religiöses Kernstück verankert.

Küntzel betreibt narrative Soziologie. Er schneidet solche Vignetten: drei Söhne muslimischer Eltern im Berufsschulalter individualisieren sich in ihren Reaktionen auf Ramadan-Fastenvorschriften. Einer isst öffentlich und lässt einen Dissens zum Standard der Altvorderen im Verzehr von Schweinefleisch eskalieren. Einer verzieht sich mit Lebensmitteln aufs Klo. Einer verzichtet traditionell auf den Pausensnack.

Die arabische Straße

Das Manifest von Kairo etablierte eine Reihe ahistorischer Stereotypen. Es fundamentalisierte einen Feindschaftsbegriff, der nicht aus der Geschichte, sondern aus einer Ideologie geschöpft ist. Auf dieser Grundlage hieß es dann ex Cathedra: Die Palästinafrage entscheidet über das Überleben des Islam. Damit habe man die „arabische Straße“ mobilisiert und Millionen „Analphabeten“ aufgestachelt. Entscheidend ist hier, dass es dieses Ermächtigungspotential ohne die angedeutete Amalgamierung nicht gegeben hätte.

Ich kann nur jedem raten, das Buch zu lesen. Es nimmt wenigstens einen Allgemeinplatz aus dem Debattenfeld. Allgemein heißt es, der islamische Antisemitismus sei eine Folge des Nahostkonflikts. Küntzel zeigt, dass der islamische Antisemitismus ein deutsch-arabischer Propagandacoup war. Dessen räumliches Zentrum lag in Zeesen. Darüber bald mehr.

Aus dem Verlagsprogramm

1937 kam mit der Broschüre „Islam und Judentum“ eine neue Form von Judenhass in die Welt: der islamische Antisemitismus. Die Nationalsozialisten taten alles, um diese neue Hassbotschaft mithilfe ihrer arabischsprachigen Radiopropaganda zu verankern. Das Buch beleuchtet dieses bislang unbekannte Kapitel deutscher Vergangenheit. Es präsentiert neue Archivfunde, die belegen, wie sich das Judenbild im Islam zwischen 1937 und 1948 unter dem Einfluss dieser Propaganda und sonstiger Nazi-Aktivitäten veränderte.

Dieser neue Blick auf die Nahostgeschichte ermöglicht eine präzisere Beurteilung der Gegenwart: Was genau ist „islamischer Antisemitismus“? Wie tritt er gegenwärtig in Deutschland und Frankreich in Erscheinung? Was macht ihn besonders gefährlich?

Erst wenn wir begreifen, wie stark die moderne Nahostgeschichte von den Nachwirkungen des Nationalsozialismus geprägt ist, werden wir den Judenhass in dieser Region und dessen Echo unter Muslimen in Europa richtig deuten und adäquate Gegenmaßnahmen entwickeln können.

Ein Rezeptionssplitter

Der Liberalismus des 19. Jahrhunderts litt unter dem 1873er-Börsenkrach, soweit es Deutschland betraf, in der Konsequenz einer überhitzten Konjunktur, zu der fünf Milliarden französische Reparations-Goldfranken beigetragen hatten. Der als Gründerkrach in die Geschichte eingegangene Absturz zerstörte eine Spekulationsblase.

Küntzel schreibt: „Man suchte und fand für diese Katastrophe einen Sündenbock. Im Chaos … wurde dem als ‚jüdisch‘ abgestempelten Liberalismus der Prozess gemacht“.

Das half dem religiös-basierten Antisemitismus neue Biotope im aufkeimenden Säkularismus zu verschaffen. Ein nichtkonfessioneller Standpunkt verschaffte sich Geltung. Er bot dem Antisemitismus eine für das 20. Jahrhundert passende Grundlage.

Während Küntzel im Hörsaal 2002 spricht, fällt es mir wieder ein. In meiner Kindheit gab es noch die zur Vehemenz einladende Ansicht, Antisemitismus sei ein neutraler Begriff. Küntzel liefert die Ableitung. Sie läuft über eine soziale Achse in der Unterscheidung zwischen Integrierten (Integrierbaren) und nicht integrierten (nicht zu Integrierenden), um eine pseudowissenschaftlich angestrichene rassistische Bilanz zu ziehen. Dabei werden die Integrierten zu Antisemiten.

In der arabischen Welt entstand kein Äquivalent zur Säkularisierung des Antisemitismus. Die orientalische Ablehnung speiste sich immer weiter aus den alten Quellen des frühislamisch „degradierenden Antijudaismus“, bis „die negativsten Judenbilder aus Christentum und Islam“ zusammengeführt wurden.

Georg Simmel begreift Antisemitismus „als Nebenprodukt der Zivilisation“. „Die große Explosion des Antisemitismus“ (Max Horkheimer) war kein Unfall der Geschichte. Seine Einordnung als zivilisatorische Entgleisung ist weniger als eine geeignete Entlastungsstrategie. Wie in einer kollektiven Psychose lief Jahrzehnte alles Mögliche auf den Holocaust zu und zwar so sehr im Schubverbund mit bürgerlichen Maßstäben, dass die Maßstäbe als Korsett des seelischen Überlebens der Täter*innen nicht versagten. Eine Tragik des Holocausts liegt in Verhältnissen, die den Täter*innen ein persönliches Weitermachen erlaubten und sogar Gewinne aus der Tabuisierung des offenen Antisemitismus nach Fünfundvierzig gestatteten. Antisemitismus avancierte zum heimlichen Wissensvorsprung in Umkehrung seiner Voraussetzungen bis Fünfundvierzig. Freud beobachtet in seiner „Massenpsychologie“ reaktive Veränderungen des Einzelnen sobald ihn eine Masse ansaugt. Es kommt zu Vereinheitlichungen und Vereinfachungen im Zuge eines Abtrags des „psychischen Oberbaus“. Diesen homogenisierenden Abtrag stellten Antisemiten nach Fünfundvierzig dem Kollektiv in Rechnung, als etwas, dass notwendig da ist, nur eben gerade mal nicht so sichtbar wie vorher. Da liegt der antisemitische Hase im Pfeffer, oder, um es mit Natan Sznaider zu sagen: „Ohne Christentum und Islam keinen Antisemitismus.“

Feind ohne Nimbus

Küntzel erkennt einen Ausgangspunkt des im Ornat der uneinholbaren Überlegenheit sich gerierenden arabischen Anti-Judaismus in Mohammeds Sieg über den letzten in Medina verbliebenen jüdischen Stamm: den Banū Quraiza.

Fortan „war jüdische Präsenz für muslimische Gesellschaften ein untergeordnetes Problem … solange sich Juden ihrer Demütigung fügten“.

Der Politikwissenschaftler setzt Fleiß in seine Beispielliste. Als Feind ohne Nimbus macht der arabische Blick den anderen*, so der Islamforscher Bernhard Lewis, zitiert nach Küntzel, zum „Objekt der Lächerlichkeit“.

*Zu bedenken ist hier das Thema Othering: „Der Begriff Othering bezeichnet die Differenzierung und Distanzierung der Gruppe, der man sich zugehörig fühlt, von anderen Gruppen.“ (Wikipedia)

Der in Berlin auf offener Straße mit einem Gürtel geschlagene Kippaträger weist sich als nicht-jüdischer Israeli aus. Ohne Kippa würde er arabisch gelesen.

Küntzel will darauf hinaus: Dem arabisch-muslimischen, primär religiös motivierten Anti-Judaismus fehlt die diabolische Dimension. „Die jüdische Weltverschwörung“ gedieh als witterungsbeständiges Hassformat in Europa. Sie aspirierte die Renaissance.

Die Neuzeit kam mit der Pest, die, so die Theorie, „im Pakt mit dem Teufel (von) Juden … über die Christenheit gebracht“ wurde.

Was aber geschah, als der arabische, auf einem Suprematie-Phantasma aufbauende Anti-Judaismus mit dem im Dritten Reich zur Staatsdoktrin erklärten Antisemitismus verkoppelt wurde?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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