Beate Sauer - Idyll am Fuschlsee

#TexasText/Jamal Tuschick Die nationalsozialistische Ästhetik verlor in der Wirtschaftswunderrepublik ihr martialisches Kleid. Sie ging unerkannt als Unschuld vom Land und langweilte die künftigen Achtundsechziger:innen mit ihrem Kitsch.

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Die nationalsozialistische Ästhetik verlor in der Wirtschaftswunderrepublik ihr martialisches Kleid. Sie ging unerkannt als Unschuld vom Land und langweilte die künftigen Achtundsechziger:innen mit ihrem Kitsch. Niemand wäre damals auf die Idee gekommen, den Heimatfilm für etwas anderes als eine Reaktion auf Verluste zu halten. In Wahrheit tarnte sich der Faschismus im Heimatfilm mit Harmlosigkeitsbehauptungen. Vordergründig fehlte der NS-Bezug, wie Samuel Salzborn in seiner Analyse „Kollektive Unschuld“ feststellt.

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Idyll am Fuschlsee

Eva darf keine Schneiderinnenlehre machen, weil Schneiderin in den Augen ihres Vaters ein Kleine-Leute-Beruf ist.

Die Mutter treibt täglich Gymnastik. Sie bleibt im Morgenrock, bis die Kinder und der Mann aus dem Haus sind. Ihre Routinen dementieren die Selbstständigkeit und den Opfermut der Kriegsjahre. Damals wickelte Eva ihre Zwillingsschwestern Lilly und Franzi im Luftschutzkeller.

In den 1950er Jahren wurden Frauen zurück an den Herd gescheucht. Weibliche Berufstätigkeit zählte nach einer verbreiteten Ansicht zu den Übeln, die der Erosion des überkommenen Familienmodells Vorschub leisteten.

Eva trifft ihre Cousine und angehende Hotelfachfrau Margit in Fuschl am See. Sie platzt in die Dreharbeiten zum ersten Sissi-Film. Ihr begegnen nicht nur Magda und Romy Schneider.

Das Salzkammergutidyll am Fuschlsee liefert den Kino-Illusionist:innen eine Ersatzkulisse für die Originalschauplätze am Starnberger See. Schloss Fuschl ersetzt Schloss Possenhofen. Die ältesten Bürger:innen erinnern einen Stop-over der echten Sisi 1867 gemeinsam mit Kaiser Franz-Joseph vor Ort. Auf dem Weg zur Kur in der kaiserlichen Wahlheimat Ischl nahm sich das Paar die Zeit, Napoleon III. am Fuschlsee zu treffen.

Eva wohnt im legendären Schloss Fuschl. In dem weitläufigen Gebäude verliert sie die Orientierung. Im nächsten Erzählaugenblick ist sie Statistin, engagiert von Ernst Marischka persönlich. Der Sissi-Regisseur tätschelt des „Fräuleins“ Arm in einer ergreifend anschaulichen Schilderung paternalistischer Übergriffigkeit.

Die Komparsin wird in ein Korsett geschnürt.

So kurz nach Kriegsende ist Seide Mangelware. Das erfährt Eva von der Bildhauerin und Kostümschneiderin Gerda Gottstein. Die Ausstattungsgöttin mit dem Künstlerinnennamen Gerdago initiiert die Debütantin. Sie empfiehlt Eva dem Kollegen Heiner Palzer.

Ohne Vorlauf verfällt Eva der Kino-Magie. Sie stiehlt ein Drehbuch und kauft - zu ihrer kostümbildnerischen Inspiration - einen Wälzer mit dem Titel „Historische Gewänder vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert“.

Die als Ausstattungsgöttin der Sisi-Schinken (dem Markenkern des Heimatfilm-Genre) gefeierte jüdische Bildhauerin und Kostümschneiderin Gerda Gottstein muss Marischkas Kameramann Bruno Mondi ertragen. Mondi diente Veit Harlan bei den Dreharbeiten zu „Jud Süß“.

„Die Ein- und Ausschlusslinien der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft“ (Samuel Salzborn) gelten weiter. Die Gruppe 47 liefert dem Heimatfilm einen Komplementärtext. Hans Werner Richter verwies Paul Celans Vortragsstil „in die Synagoge und verglich (die Sprechweise) mit dem … Singsang von Joseph Goebbels“ (Hans-Peter Kunisch). Der Antisemitismus brach durch.

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Die nationalsozialistische Ästhetik verlor in der Wirtschaftswunderrepublik ihr martialisches Kleid. Sie ging unerkannt als Unschuld vom Land und langweilte die künftigen Achtundsechziger:innen mit ihrem Kitsch. Niemand wäre damals auf die Idee gekommen, den Heimatfilm für etwas anderes als eine Reaktion auf Verluste zu halten. In Wahrheit tarnte sich der Faschismus im Heimatfilm mit Harmlosigkeitsbehauptungen. Vordergründig fehlte der NS-Bezug, wie Samuel Salzborn in seiner Analyse „Kollektive Unschuld“ feststellt. Sah man dahinter, sah man alles. „Die völkische Heimatromantik“ behielt ihren dominanten Genrecharakter. Die Idealisierungen boten sich zu „kollektiven Identifizierungen“ an. Sie relativierten nicht nur den Nationalsozialismus, sie transformierten ihn sogar. Sie boten ein Deutschland ohne Holocaust. Sie waren Paradeinstrumente der Erinnerungsabwehr und funktionierten als revisionistische Bollwerke. Einer Verdrängungsgemeinschaft gewährten sie Deutungsangebote. Sie trugen dazu bei, dass sich Narrative etablieren konnten, die der deutschen Schuld widersprachen.

Siehe hierzu: Samuel Salzborn, „Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern“, Hentrich & Hentrich, 130 Seiten, 15,-

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Sauer beschreibt Evas Vater Axel als rücksichtslos-charmanten Karrieristen und Pantoffel-Pascha. Von einer Münchner Zeitung wechselt er zum Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR). Der Kölner Sender steht kurz vor seiner Umbenennung zum WDR. Seit 1950 produziert er (bis 1952 als Pilotprojekt) ein Fernsehprogramm.

Axel platziert Eva als Sekretärin bei seinem Sender. Als Zuarbeiterin und TV-Korrespondent nehmen Eva und Axel am 19. Oktober 1955 an der ersten Bundestagssitzung in Berlin teil. Als Plenarsaal dient ein Raum im Physikalischen Institut der Technischen Universität. Bundestagspräsident Dr. Eugen Gerstenmaier begrüßt das Auditorium.

Die geteilte Stadt war Evas erster Wohnort. Die großelterliche Grunewald-Villa bietet immer noch einen privaten Rahmen.

Aus der Ankündigung

Die Geschichte einer deutschen Familie, eines Mediums, das alles verändert, und einer Generation furchtloser Frauen

1953 bezaubert die Krönungszeremonie von Elizabeth II. die Menschen vor den Fernsehbildschirmen. Das neue Medium bietet einen Blick in die große weite Welt, wie es ihn nie zuvor gegeben hat. Auch die siebzehnjährige Eva Vordemfelde ist begeistert von der jungen Königin, von der frischen Brise einer neuen Zeit und der Aussicht auf ein aufregendes, unabhängiges Leben. Ihrem Vater passen diese Ambitionen überhaupt nicht. Ein junges Mädchen gehört nach Hause. Als Eva sich auch noch in den unkonventionellen Journalisten Paul verliebt, setzt ihr Vater alles daran, seine Tochter den konservativen Regeln zu unterwerfen, die er für richtig hält. Doch Eva lässt sich nicht unterkriegen. Und als sie die unglaubliche Chance erhält, bei der Kostümbildnerin der »Sissi«-Filme zu lernen, setzt sie alles daran, ihren Traum Wirklichkeit werden zu lassen.

Zur Autorin

Beate Sauer wurde 1966 in Aschaffenburg geboren. Sie studierte Philosophie und katholische Theologie in Würzburg und Frankfurt am Main. Sie lebt und arbeitet als freie Autorin in Bonn.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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