Clarice Lispector - Inventur der Gefühle

#TexasText/Jamal Tuschick Clarice Lispectors Prosa trifft den Leser stets unvorbereitet. Sie bewahrt ihr Geheimnis und hört deshalb nicht auf, überraschend zu sein. Ihre Strudel fesseln den Erfassten. Er verliert sich wie in Labyrinthen.

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„In Berlin feiern Menschen das Massaker auf den Straßen, Häuser werden mit Davidsternen markiert, Synagogen werden attackiert in Deutschland, Großbritannien, Wien und so weiter ... Seit dem Überfall der Hamas auf Israel hat es allein in Deutschland 1800 antisemitische Straftaten gegeben, und es werden stündlich mehr.“ Nele Pollatschek am 02.11. 2023 in der „Süddeutschen Zeitung“, Quelle

Entthronte Gottheit

„Unsere Existenz ist existenzlos. Unsere Wirklichkeit ist unbegründet. Um uns ist Angst.“ Imre Kertész

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Ich vernahm das Geschlechtergrollen, die Dynastien der Diaspora, den Sound von „Wüste, Jericho und Jerusalem“. Jewgeni Igorewitsch Kissin

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Sehen Sie ferner https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4696

und

https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4695

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“Everything in the world began with a yes. One molecule said yes to another molecule and life was born.” CL

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„Selbst seine Bosheit machte ihn einer entthronten Gottheit ähnlich - einem Genie. Und außerdem war ich längst in ihn verliebt.“ CL

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„Ich bin jetzt blass, ohne eine Spur von Lippenstift.“ CL

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„Ich war etwas sehr Seltenes, nämlich frei.“ CL

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„Wir haben Kathedralen errichtet und sind dann draußen geblieben, weil wir fürchteten, die von uns selbst errichteten Kathedralen könnten sich als Fallen erweisen.“ CL

Inventur der Gefühle

Es gibt ein Gebet für Clarice Lispector, geschrieben von Mary Ruefle. Darin verkörpert sich die Erzählerin in einem „gelben Finken“. In der Todesstunde der verehrten Schriftstellerin inspiziert der Vogel einen Futterspender in Reichweite der Sterbenden. „Die schwarzen öligen Sonnenblumenkerne“ liegen seit Monaten an ihrem Platz. Siehe Mary Ruefles, „Mein Privatbesitz“ .

„Ich war das letzte Lebendige, was sie sah, meine Verantwortung war groß.“

Clarice Lispectors Prosa trifft den Leser stets unvorbereitet. Sie bewahrt ihr Geheimnis und hört deshalb nicht auf, überraschend zu sein. Ihre Strudel fesseln den Erfassten. Er verliert sich wie in Labyrinthen.

Clarice Lispector, „Wofür ich mein Leben gebe. Kolumnen 1946 - 1977“, herausgegeben und aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt von Luis Ruby, Penguin Verlag, 28.-

Clarice ‚Chaya‘ Lispector kam 1920 im ukrainischen Tschetschelnyk als jüngste von drei Töchtern russisch-jüdischer Eltern auf die Welt. Die Familie floh vor Pogromen via Hamburg nach Maceió. In Brasilien fand sie eine neue Heimat.

Lispector erzählt von Frauen, die aus der Banalität eines unerfüllten Lebens herauswollen, ob als Gattinnen von Bigamisten, als Geliebte von Außerirdischen oder als von Gott Geschwängerte. Im Gegenlicht der Extravaganzen tauchen schemenhaft schroff Dolomiten der vernebelten Unmöglichkeiten auf. Sie erfüllen ihre Barrierefunktionen im Kontext einer patriarchalen Niederhaltungstechnologie. Die Protagonistinnen weichen ins Geträumte aus. Sie inszenieren sich in Imaginationen, triften ab und träumen weiter.

Ihre Träume füllen leere Räume.

In Lispectors literarischen Kolumnen (mondän publiziert im Jornal do brasil) dominiert das Episodische, Flüchtige, Vergebliche. Die Miniaturen unterliegen einem portugiesischen und brasilianischen Genre: der Crônica. In „Unsterbliche Liebe“ bekennt die Autorin ein von Skrupeln belastetes Verhältnis zu den poetischen, wohl auch dem Erwerbsdruck geschuldeten Glossen.

„Ich fühle mich fast so, als würde ich meine Seele verkaufen.“

In einer beinah lyrischen Séance vom 19. August 1967 feiert die sprechende Instanz einen Moment der Selbstüberwältigung vor dem Spiegel.

„Ich bin so zart und kraftvoll. Und der Schwung der Lippen hat sich die Unschuld bewahrt.“

Es verrät sich die Freude, „in der äußeren Gestalt die Echos der inneren Gestalt zu finden“.

Manches rührt von dem Wunsch, Buchstaben zu malen und - so sorgfältig wie eine strebsame Schülerin - in Hefte zu schreiben. Die Erstellung einer profanen Liste löst einen libidinös-eskapistischen Rausch aus; siehe „Denken spielen“. Eine Bestandsaufnahme von Gegenständen, die temporär außer Haus geschafft werden sollen, mündet in der „Inventur der Gefühle“.

In einer Meditation aus dem Jahr 1967 schlingert die Kolumnistin retrospektiv durch ein Gefühlslabyrinth, das beim Besuch einer ehemaligen Kollegin entstand. Offensichtlich war der Wille der Empfangenen, eine gute Figur zu machen. Sie verlangte sich einen unglaublichen Überschwang ab.

„Nach kurzer Zeit war ihre mindere, oberflächliche Schönheit abgeschabt.“

In einem Zustand durchgreifender Erschöpfung, wenn nicht sogar Auflösung verabschiedet sich die Person. Lispector sieht ihr nach. Sie registriert „schlecht geschnittene Kleidung“ und betreibt Bodyshaming. Sie unterstellt der Davoneilenden „im Streit (zu liegen) … mit der eigenen Engstirnigkeit, die ihr dazu (rät), weniger zu sein als sie (ist)“. Sie spürt „die Last eines (fruchtlosen) Begreifens in der Brust“.

Kolumnenkosmos

Nicht alles in diesem Kolumnenkosmos ist nach Kleinod-Kategorien ziseliert. Lispector marschiert mitunter auch über narrative Magistralen. Dann klotzt sie: „Wir haben Kathedralen errichtet und sind dann draußen geblieben, weil wir fürchteten, die von uns selbst errichteten Kathedralen könnten sich als Fallen erweisen.“ Morgen mehr.

Aus der Ankündigung

Die Entdeckung des »Kosmos Clarice Lispector« geht weiter: So persönlich war die Ikone der modernen Literatur noch nie zu erleben

Clarice Lispector, eine der literarischen Ikonen des 20. Jahrhunderts, schrieb zeit ihres Lebens für Zeitungen, so u.a. zwischen 1969 und 1973 für das »Jornal do Brasil«, das führende Presseorgan des Landes, in dem sie eine wöchentliche Kolumne führte. Berühmt für ihre expressiven, das Innerste ihrer Figuren nach außen kehrenden Romane und Kurzgeschichten, erzählte Lispector hier von ihrem eigenen Alltag, verwandelte persönliche Erlebnisse und Erinnerungen in tiefgründige, berührende, häufig humorvolle kurze Episoden. Die verlorene Liebe eines Taxifahrers, die bittere Wahrheit hinter der Schönheit einer alten Freundin, ihre eigene Familie und ihr Aufwachsen: In allem entdeckt Lispector die Widersprüche und Eigenheiten des Leben. Auch über ihr Schreiben reflektiert sie in den Kolumnen immer wieder, teilt ihre Leseerfahrungen und schlägt eine Brücke zur brasilianischen Musik ihrer Zeit. Lispectors ureigener Blick auf die Welt, so ernst wie spielerisch, so heiter wie kontemplativ, offenbart echte Perlen der Erkenntnis und bringt uns die Schriftstellerin so nahe wie nie zuvor. Luis Ruby, gerühmter Übersetzer von Lispectors Romanen und Erzählungen ins Deutsche, hat für diesen Band die unterhaltsamsten und aufschlussreichsten Kolumnen ausgewählt und kommentiert. »Eine wirklich außergewöhnliche Schriftstellerin.« Jonathan Franzen – »Endlich wird eine der geheimnisvollsten Autorinnen des 20. Jahrhunderts in all ihren schillernden Facetten wiederentdeckt.« Orhan Pamuk

Zur Autorin

Clarice Lispector, geboren 1920 in der Ukraine, gelangte mit ihrer Familie auf der Flucht vor Pogromen in den ländlichen Norden Brasiliens und lebte später in Rio de Janeiro. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, studierte sie Jura und begann eine Karriere als Journalistin. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren wurde sie Schriftstellerin. Sie schrieb Romane, Erzählungen, Kinderbücher sowie literarische Kolumnen und wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet.

Zum Herausgeber und Übersetzer

Luis Ruby, 1970 in München geboren, übersetzt neben Clarice Lispector Autoren wie Hernán Ronsino, Eduardo Halfon und Niccolò Ammaniti. Er wurde für seine Arbeit u.a. mit dem Bayerischen Kunstförderpreis und dem Münchner Literaturstipendium ausgezeichnet.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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