Der Kolonialismus im Spiegel der Romantik - Dramatische Schatten

#TexasText/Jamal Tuschick „Auch im härtesten Stein ist Leben.“ Edvard Munch

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„Je näher wir uns jemandem fühlen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir ihm aufmerksam zuhören. Closeness connection bias nennt man diese Wahrnehmungsverzerrung in der Verhaltensforschung.“ Vera Schroeder in der „Süddeutschen Zeitung“, „Jetzt hör mir doch mal zu!“, Quelle

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„Dutzende Male haben Luther und Erasmus die gleichen Gedanken ausgesprochen, aber was bei Erasmus bloß einen feinen … Reiz auf die Geistigen ausübt, eben das gleiche wird bei Luther dank seiner mitreißenden Art sofort Parole, Feldruf, plastische Forderung, und diese Forderungen peitscht er so grimmig wie die biblischen Füchse mit ihren Feuerbränden in die Welt, dass sie das Gewissen der ganzen Menschheit entzünden.“ Stefan Zweig, „Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam“

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„Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, das heißt vermutlich, der Mensch schuf Gott nach dem seinigen.“ Georg Christoph Lichtenberg

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Archaisches Kunstgewerbe

Halb tot, doch gut gelaunt erreicht der Kasseler Reiseschriftsteller und Hobbyornithologe Cornelius Kammschneider eine Missionsstation im Oriente von Ecuador. Die jesuitischen Missionare trotzen ihrer von Misstrauen gekrönten Abneigung die notdürftigste Gastfreundschaft ab. Der deutsche Protestant erscheint ihnen verdächtiger als alle „Heiden“, einschließlich der getauften. Umgekehrt verhält es sich ärger. Kammschneider findet jedes Ding auf der Station „grob zusammengehauen“. Ihn stört die gestauchte Virilität seines Aufsehers. Jorge Salamanca ist ein im Ernst lodernder, monoton vollblütiger Mann. Der geborene Inquisitor. Der dramatische Schatten geht Kammschneider auf die Nerven. Die ursprüngliche, von den Missionaren agitierte und zu regelmäßiger Arbeit im Zustand der Vollbekleidung angehaltene Bevölkerung nennt er furchtsam. Im Vergleich zu den Waorani trifft das Urteil. Doch haben die Mündel der Jesuiten vielmehr ihren Mut als ihre Wildheit verloren. Sich ihnen unbewaffnet anzuvertrauen, ist unklug. Ihre Ausbrüche sind fürchterlich.

Kurz zu Kammschneiders Begegnung mit den Waorani.

„Im Allgemeinen lebt der I... sehr einfach“, notiert Kammschneider im August 1837. „Ihn ernährt die Banane und ein süßer Kartoffelbrei.“

In Begleitung seines Burschen Alfonso bereist Kammschneider das Amazonastiefland, seine Beobachtungen macht er auf dem Territorium der Waorani. Grundlos rechnet er den Stamm einem größeren Volk zu. Gelegentlich spricht Kammschneider (in seinen Aufzeichnungen) vom „Napo-I…“. Napo heißt ein Fluss in der Gegend seiner Irrtümer. Die Waorani pendeln zwischen Ecuador und Peru. Kammschneider mäkelt: „Vorratshaltung kennen sie nicht. In den Haupthütten leben Familien zusammen. Da die Hütten nur eine Abteilung haben, häufen sich im nämlichen Raume diverse Ehepaare, halb und ganz erwachsene Jünglinge, Jungfrauen, Knaben und Mädchen. Eine Absonderung der Unverheirateten von den Verheirateten findet nicht statt. An anständige Kleidung ist nicht zu denken.“

Die „Wilden“ machen einen verwilderten Eindruck auf Kammschneider.

„Anderen I...n wurde das Gesetz gegeben, wenigstens eine Schürze aus Blättern zu tragen.“

Die Waorani haben ihre eigenen Gesetze. Sie sind einander in Blutfehden zugetan, die Männer behalten ihre Speere in Reichweite.

„Fremden begegnen sie mit mordbereiter Gleichgültigkeit“, behauptet Kammschneider. Ihm und Alfonso krümmen sie trotzdem kein Haar. Sie kennen ein geistiges Getränk, gewonnen von der Puca. Sie kochen und rühren Blätter zu Brei und setzen der Masse ihren Speichel zu, um die Gärung anzuregen.

„Sie kauen den Brei und spucken ihn in Krüge. Mehr Drogen haben sie nicht.“

Wieder irrt Kammschneider. Die Waorani stellen Branntwein aus Bananen und Zuckerrohr her. Sie reisen auf dem Napo und besuchen Inseln im Strom. Nie übernachten sie unter freiem Himmel, stets werden Unterstände aufgebaut und die Einrichtung aus den Kanus geholt.

Kammschneider bewundert Handfertigkeiten, seine Perspektive antizipiert ethno-phantastische Redundanz. Oft steht er ratlos vor einem Geschehen. Er tendiert zu der Ansicht, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben und vermutet den Stein des Weisen im Wilhelmshöher Schlosspark.

Wilhelmshöhe heißt noch Weißenstein, und Kassel schreibt man mit C - Cassel.

Am Rio Napo ist alles anders als in Kassel. Kammschneider konstatiert: „Schon die Kinder beweisen außerordentliche Kraft und Ausdauer, wenn es gilt, den breiten, manchmal reißenden Fluss zu durchschwimmen. Sie machen sich einen Sport daraus, obwohl sie Bewegung sonst nur mit Nützlichem verbinden.“

Kammschneider erkennt, dass der Urwald keine Überflussgesellschaft hervorbringt. Schließlich zieht er weiter, und mit ihm Alfonso. Kammschneider spricht von „basaler Unlust“ und „einer bedenklichen Lethargie“ bei seinem Burschen. Morgen mehr.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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