Der Kolonialismus im Spiegel der Romantik - Erdgeschichtlicher Hochofen

#TexasText/Jamal Tuschick Cornelius Kammschneider erwartet einen Ausbruch des Cotopaxi. Der Krater trägt einen weißen Kragen. Feuer und Schnee treffen auf unwahrscheinliche Weise zusammen. Den Eindruck verstärkt Psilocybin, der Kasseler Dichter und Botaniker ...

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Kraterkragen

„Auch im härtesten Stein ist Leben.“ Edvard Munch

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Cornelius Kammschneider erwartet einen Ausbruch des Cotopaxi. Der Krater trägt einen weißen Kragen. Feuer und Schnee treffen auf unwahrscheinliche Weise zusammen. Den Eindruck verstärkt Psilocybin, der Kasseler Dichter und Botaniker hat sich Magic Mushrooms besorgt, gerade fühlt er sich wie auf einer Zeitreise zum Anfang der Schöpfung.

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„Ich spürte, wie unsere Liebe wie ein Häuflein Asche auf dem Boden lag.“ Edvard Munch

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Klassiker der nordhessischen Romantik

Fünfunddreißig Jahre nach Alexander von Humboldt erreichte Cornelius Kammschneider im August 1837 den Fuß des Chimborazo. Der Kasseler Reiseschriftsteller, Gelegenheitspoet, Hobbyornithologe und -botaniker stieg ein ordentliches Stück den Berg hinauf, wegen der Aussicht. Kein Ehrgeiz trieb ihn. Er war gern allein guter Dinge.

In seinen Aufzeichnungen berichtet Kammschneider von „seit Menschengedenken untätigen Feuerspeiern“ in der Nachbarschaft des Chimborazo. Er schlug sein Lager in schroffer Höhe auf. Tief unter ihm weideten Lamas. Phosphoreszierende Käfer und lunare Lichtphänomene sorgten für Stimmungen wie im Drogenrausch. Im Mondschein schrieb Kammschneider das Gedicht Chimborazo. Es wurde zu einem Klassiker der nordhessischen Romantik. Als er am nächsten Morgen talwärts ausschritt, bemerkte er ein seltsames Treiben. Kümmerliche Gestalten schleppten sich über eine Ebene mit dürftiger Vegetation. In ihrem Dunstkreis bewegten sich strotzende Outlaws. Kammschneider war auf der Hut, hatte er doch von Ausgestoßenen und anders Verworfenen gehört, die stammesförmig zu einer Notgemeinschaft zusammengeschlossen waren. Sie erkannten selbst die Notwendigkeit, fern der braven Menschheit verkehren zu müssen.

Kammschneiders Argwohn wuchs im Takt seiner Furcht. Welche Aufgabe kam den handfesten Typen am Saum der dubios-burlesken Prozession zu? Sollten sie die Übrigen auf eine Alm treiben?

Ratlosigkeit befiel den Hessen. Noch wurde Kammschneider von erheblichem Abstand zu dem Umzug gesichert. Er seufzte. Was, wenn da Anthropophagen anmarschierten?

Kammschneider beschloss, sich vor den Menschenfresser:innen zu verbergen. Er wählte eine sakral-skulpturale Reihe von Dauben als Deckung. Die Dauben überstanden Dolmen, die in ein natürliches Amphitheater gesetzt worden waren.

Die Fürchterlichen erreichten die neolithischen Artefakte. Ob sie je einen waschechten Europäer gesehen hatten? Mit wachsender Expression bewegten sie sich im Kreis, zu den Aufforderungen einer Trommel. Bald geschah Unerhörtes unter einem erschrockenen Himmel.

Narrische Schwammerl

Drei Tage später erwartete Kammschneider einen Ausbruch des Cotopaxi. Der Krater trug einen weißen Kragen. Feuer und Schnee trafen auf unwahrscheinliche Weise zusammen. Den Eindruck verstärkte Psilocybin, Kammschneider hatte sich Magic Mushrooms aka Narrische Schwammerl besorgt, gerade fühlte er sich wie auf einer Zeitreise zum Anfang der Schöpfung.

Da war ein Entdeckergefühl. Der Entdecker sieht etwas, das zum Alltag von Millionen gehört und fühlt sich von Gott persönlich angesprochen, weil er es auch sieht, so wie Kammschneider einen aktiven Vulkan on the rocks. Halb schon im Delirium notierte er den ersten Vers des Gedichts Kegelpyramide.

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Alexander von Humboldt sah, wie ein erdgeschichtlicher Hochofen rasend schnell den eigenen Krater vom Schnee befreite.

„In dunkelroter Gluth erhob sich die Feuersäule des aufsprühenden Schlackenregens zu gewaltiger Höhe. Der Berg empörte sich so furchtbar, dass man seine Beschwerde (im kolumbianischen) Honda vernahm“ - eine Entfernung von achthundert Kilometer in der Luftlinie.

Eine leichtfertige Bestellung von Feldern in gefährdeten Gebieten konnte hundert Jahre lang hinhauen. Plötzlich schoss glühender Auswurf die Hazienda zu Klump. Paradiesischen Myrtengärten und Orangenhainen verbrannten im Nu.

Kammschneider beobachtete Dürre und Unfruchtbarkeit.

„Der Boden liegt wüst da.“

„Sand trifft Lehm. Überhaupt geben uns die Felder und ihre Bestellungsart die traurigsten Begriffe von bäurischer Einfalt. Der Mais wird nur zwei Fuß hoch und braucht dreizehn Monate zum Gedeihen, die Kartoffel eher noch länger.“

Geld wurde in der Viehwirtschaft verdient. Verwilderte Herden wanderten auf Weiden, die Gemeindeeigentum waren. Es gab auch noch Inkakollektive. Als Kammschneider Quito besuchte, zählte die Stadt „siebenunddreißigtausend Seelen“. Die Kapitale liegt so im Verborgenen, dass man in die Stadt hineinläuft wie in eine Falle. Ihre Festigkeit bewog die Spanier, den Inkas in der Bestimmung Quitos zur Hauptstadt zu folgen.

„Quito hat sehr wohl den Charakter eines geräumigen, für Tourist:innen geputztes Bergdorf so wie bei uns Berchtesgaden“, fand Kammschneider.

Man baute nicht hoch wegen der Erdbeben. Man wohnte im ersten Stock zweigeschossiger Häuser. In Parterre waren Läden und Werkstätten.

Kein Karren taugte für die steilen Pisten.

Kammschneider bemerkte Ruinen, „offensichtlich im Zustand fortgeschrittener Verwitterung“. Was gut und fest stand, zeigte die Vorlieben der Renaissance. Stets fiel das Licht von oben ein. Was weniger gut war, bewies „die schwache Seite des Barock“.

So sah es Kammschneider. Der Pietist begegnete dem spanisch-katholischen Kolonialdekor mit den Abneigungen des Prüden. Er versprach, ein alter Junggeselle zu werden, von der Art, die bei kaum wohlhabenden Witwen logierten und deren Nachlass schließlich in zwei Kartons passte.

Kammschneider studierte Fassaden. Er motzte wegen „simsloser Flächen“ und vermisste Ornament. - Glanzziegeln, wie in Lima, Mosaike wie sonst wo. Da war ihm zu wenig Ausdruck und Lebhaftigkeit im Spiel der Wände. Morgen mehr.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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