Jamal Tuschick - Die Wüsten Europas

#TexasText/Jamal Tuschick Ohne die Ausbeutungen der Dritten Welt seit den westindischen Abenteuern des Kolumbus wäre Europa zu schwach, um auch nur eine Grenze zu halten. Die alten Kolonialreiche erheben als Demokratien weiterhin Anspruch auf Überlegenheit.

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In jedem Gasthaus sitzt einer, der was weiß und wen kennt. Zum Beispiel kennt er einen freien Mitarbeiter vom Fulda Kurier, dem sollte mal jemand stecken, wie eigenmächtig und selbstherrlich die Gerster-Gang in Kraichhain vorgeht. Oder was Adem Koyuncu mit Luciano Montana zu tun hat. Deutsches Unverständnis für kalabrische Eigentümlichkeiten animierte Luciano einst zu der Bemerkung: Wir vom Carbonara-Clan wissen inzwischen auch, was Umweltschmutz wert ist.

Und wieder einmal sind die Koyuncus zu Gast in der Isola Bella; wenn auch in einer relativ neuen Besetzung. Luciano begibt sich zu Adem und dessen Zweitfamilie. Er nimmt Silvis Töchter in Augenschein. Man könnte mit ihnen einen Animationsfilm für die Willkommenskultur drehen. Die Flüchtlinge und der Terror bestimmen die Tagesordnung. Angela Merkels „Wir schaffen das“ und Barack Obamas „Yes we can“ liefern dem Augenblick die Slogans. Das Jahr hat in Paris hart angefangen. Am 7. Januar 2015 erschossen Islamisten zwölf Menschen in der Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“. Es gab Brandanschläge auf Notunterkünfte und weitere Ausschreitungen. Vor ein paar Tagen zogen Polizisten auf einer österreichischen Transitstrecke einundsiebzig Passagiere tot aus einem Lastwagen.

Ohne die Ausbeutungen der Dritten Welt seit den westindischen Abenteuern des Kolumbus wäre Europa zu schwach, um auch nur eine Grenze zu halten. Die alten Kolonialreiche erheben als Demokratien weiterhin Anspruch auf Überlegenheit. Sie wollen die Armut an einem anderen Ende der Welt festhalten. Jahrhundertelang konnten sie vom Überschuss junger Männer über die Lohnkosten und den Müll bis zu ihren Schwerverbrechern Belastungen exportieren und sonst wo vergesellschaften. Nun formuliert sich der europäische Standpunkt auf einem Berg von Leichen, der zur Abschreckung täglich im Fernsehen gezeigt wird.

Adem sieht Massengräber der Hoffnung, ausgehoben von Schergen an der Peripherie. Die Migranten geraten aus Metropolen in ewignächtliche Randgebiete. Sie entdecken die Wüsten von Europa. Der Dschungel von Calais bricht durch den Asphalt der Pariser Boulevards. Die Bestie Europa reißt und frisst, bis sie gefressen wird. Luciano kennt einen Dreh, aus den Flüchtlingen Geld herauszuholen. Er weiß, wie man die Ärmsten schröpft. Darüber will er mit Adem gelegentlich reden. Der alte Verbrecher betrachtet sich als Freund der Koyuncu-Familie, egal wie sie sich gerade zusammensetzt. Luciano und Adem haben ein gemeinsames Baby, von dem nicht viele wissen; eine Bettenburg in der Pampa von Kraichhain.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick