Jamal Tuschick - Geheimnisse der Jauchegrube

#TexasText/Jamal Tuschick Im Schweiße seines Angesichts stemmt Navin mit dem Schlagbohrer eine Betondecke auf. Es ist neun Uhr am Vormittag und schon brüllend heiß. Nahe der Baustelle striegelt Navins Cousine Alissa, kurz Issa, die älteste Stute ...

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The fate of the overpowering enemy is to achieve a result with superpower, that you would otherwise only be able to achieve with idiots. Jamal Tuschick

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Sieg der Verlierer:innen

In einem späten Augenblick des 18. Jahrhunderts stürmen russische Truppen eine oberitalienische Zitadelle. Sie tragen die historische Flüchtigkeit eines Sieges davon, von dem nur die Leidtragenden Notiz nehmen. Das Missverhältnis von blutigem Getöse und politischer Wirkung löst Unbehagen im Themenpark der Peinlichkeit aus. Der folgenlos aufschäumende Betrieb wirkt abstoßend. Heinrich von Kleist spekuliert auf den Effekt, indem er den militärischen Radau dem weiteren Novellengeschehen (siehe „Die Marquise von O...“) mit viel Liebe zum Detail vorsetzt.

„Denn was ist eine Novelle anderes als eine unerhörte Begebenheit.“

So auf den Punkt brachte Goethe die Novelle in einer von Eckermann 1827 festgehaltenen Bemerkung. Die Novelle ist eine Form der Neuzeit ohne antikes Vorbild. Sie verlangt das Ereignis von schicksalhafter Bedeutung als Neuigkeit.

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Eine Filmregisseurin könnte die Schießerei kaum reißerischer als Establishment Shot anbringen. Die Rede ist von einer Episode ohne geschichtliche Nachhaltigkeit. Die Restaurationsmächte Russland, Österreich, Großbritannien und Neapel paktieren im Zweiten Koalitionskrieg (1798 - 1801) gegen das revolutionäre Frankreich. Napoleon Bonaparte scheint vom Kriegsglück verlassen. Der Schein trügt. Zum Entstehungszeitpunkt der „Marquise“ ist der künftige König von Italien wieder obenauf. Krönen lässt er sich mit der tausend Jahre alten langobardischen Eisenkrone im Mailänder Dom.

1800 restituiert Napoleon seine italienische Vormachtstellung. Warum kümmert sich Kleist um einen Sieg der Verlierer, dem lediglich die Kalamitäten von Rückzügen folgten?

Interieurerbe

Das fragt sich Navin an einem faulen Nachmittag im magischen Sommer Neunzehnhundertneunundneunzig. Beinah nackt steht er in der vollen Blüte seiner Knabenschönheit vor einem halbblinden, übermannshohen Spiegel aus dem unerschöpflichen Familienfundus. Es wird nichts weggeworfen. Das Interieurerbe von einem Dutzend verschiedener Verwandter stapelt sich modernd und schimmelnd in Kammern, Kellern und auf Dachböden. Drei Gebäude stehen auf der Koppel. Nur Anton und Navin wissen über alles Bescheid. Sie sind die einzigen Inventurberechtigten, weil man am besten sogar die Angehörigen über den Bestand im Unklaren lässt. Am Ende lässt sich einer von denen über den Tisch ziehen und dann hat man den Salat. Nur der Patriarch und sein Erbprinz kennen sämtliche Gerümpelstellen auf dem Anwesen. Beinah brüderlich teilen sie die Geheimnisse der Jauchegrube. In der Gesellschaft seines Lieblingsnachkommen regrediert Anton bis auf die Stufe der Groschenromane seiner Kindheit. Er stört sich nicht an Navins halbautistischem Narzissmus. Ständig muss der Junge Liegestütze, Klimmzüge und Situps machen, und schwere Sachen auf die Hochstrecke bringen, um noch stärker zu werden. Navin hätte keinen Augenblick für sich, würde er auf sämtliche Offerten eingehen. Ungerührt sammelt er Liebesbriefe. Die meisten Bekenntnisse sind harmlos, doch ab und zu unterläuft einer Entflammten etwas, dass ihr in naher Zukunft peinlich sein wird.

Der Gymnasiast weiß schon lange, dass er mit seinem Großvater nicht über die tiefe Motivlage bei Kleist reden kann. Der Selfmade-Millionär Anton Steinbrecher verweist dem Enkel gegenüber stolz auf eine kaum fünfjährige Volkschulbildung. Nicht, dass Anton mit seinen Defiziten hausieren ginge. Freiwillig gibt man sich keine Blöße. Navins Urgroßmutter, eine geborene Bednarzek, war Analphabetin. Die Bednarzeks stammen aus den verlorenen Ostgebieten. In Westpreußen bezeichnete man einen freien Bauern als Insassen. Das war der Stand der mütterlichen Ahninnen von der Zeit Friedrich des Großen bis zur Gründer:innenzeit. Noch lebten Tiere mit den Menschen zusammen, in den Küchen brüteten Gänse. Es gab triftige Gründe für solche Hausgemeinschaften, Küken mussten vor Mardern bewahrt werden. Die Kinder konnten sich vor Hähnen fürchten. Mit dem Fleiß von Bienenvölkern ersparte man Ausbildungen.
Antons Mutter erlebte den Einmarsch polnischer Kavallerie. Deren Einquartierung in dem deutschen Nest ging glimpflich ab. Als Siebzehnjährige kam sie zu Verwandten nach Dortmund. Dort wurde Anton im ersten Jahr des Ersten Weltkriegs geboren.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

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