Jamal Tuschick - Geschälte Stimmbänder

#TexasText/Jamal Tuschick “Relaxation is more important than information. Relaxation is the reward for successful adaption”, erklärt Texas Thunderbolt. „Das Wesentliche im Universum ist nicht das Organische, sondern die Information“, widerspricht Heiner Müller.

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“One does not discover new lands without consenting to lose sight of the shore for a very long time.” Andre Gide

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“I think one of the most important things to remember (or discover), is that when performing techniques ... both hands should be used at the same time. A guard is a dead hand.” Gefunden auf Instagram, Quelle: shuridojo

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“The mind adapts and converts to its own purposes the obstacle to our acting. The impediment to action advances action. What stands in the way becomes the way.” Marcus Aurelius

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„Abschweifungen sind unleugbar der Sonnenschein - das Leben, die Seele der Lektüre.“ Laurence Sterne

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Geschälte Stimmbänder - Was zuvor geschah

Willy Brandt, der 1969 knapp Kanzler geworden war, erlebte am 19. November 1972 seinen größten Triumph. Bei einer Wahlbeteiligung von über neunzig Prozent (das Wahlalter war gerade von einundzwanzig auf achtzehn Jahre herabgesetzt worden) wurde er mit 45,8 Prozent der abgegebenen Stimmen (in einer vorgezogenen Wahl) im Amt bestätigt. Doch der von den eigenen Leuten hart angegangene Tribun war zermürbt. Als im November 1972 das Kabinett zusammengesetzt wurde, ließ sich Brandt in der Bonner Universitätsklinik auf dem Venusberg die Stimmbänder schälen. Der Kanzler stellte seine Vorstellungen von dem neuen Kabinett in einem Brief dar, den Fraktionschef Herbert Wehner im kleinen Kreis vorlesen sollte. Wehner nahm die Post an sich und „vergaß“ sie in seiner Aktentasche. Er nutzte die Rekonvaleszenzabsenz, um Fakten zu schaffen.

Brandt regierte gegen Wehner. Wehner wollte keinen Wandel durch Annäherung. Ihm gingen die Ostverträge zu weit. Er förderte die Aufrechterhaltung des Status quo. Er stand Erich Honecker näher als Brandt.

Wehner hatte in Moskau mehr begriffen als Honecker im Zuchthaus Brandenburg-Görden. Beide wurden für Breschnew zu Gefährdern seiner Pläne. Der KPdSU-Chef brauchte einen Brandt im Zenit. Das ging über Wehners Duldungskraft.

Egon Bahr schreibt: „Brandt und Wehner waren Feinde“ in der Deutschlandfrage.

Der gesellschaftliche Aufbruch von Achtundsechzig hatte seine durchgreifende Wirkung 1972 verloren. Der Bewährungssieg der SPD ergab sich auf dem Rollfeld einer neuen Restauration (unter Schmidt, der als Antipode des Kanzlers auftrat, und die Fama vom amtsmüden Brandt verbreitete). Die Leute maulten, die Willy-Euphorie war im Frühjahr Zweiundsiebzig verebbt. Herbert Hupka wechselte zur CDU, Brandts Koalitionspartner machte sich mausig. FDP-Abgeordnete versprachen Oppositionsführer Barzel bei einem konstruktiven Misstrauensvotum gegen Brandt ihre Stimmen. Barzel wähnte sich schon auf dem Thron der Republik. Der Tag der Abstimmung, ein leuchtender 27. April, sollte sein Tag werden. Für die Vereidigung war eine Stunde festgesetzt. Doch machte die Geschichte einen Bogen um Barzel, während sie Brandt wieder einlud. Je länger Gras über die Sache wuchs, desto mehr Stimmenkäufer:innen kamen ins Spiel der Spekulationen. Die Staatssicherheit der DDR zahlte nach einem Vortrag des großen Bruders zwei Mitgliedern des Bundestages je fünfzigtausend Deutsche Mark zur Vereitelung eines Regierungswechsels, den sie dann mit ihrem Kundschafter des Friedens Günter Guillaume doch herbeiführte. Ein Treppenwitz der Weltgeschichte. Gewiss wusste Guillaume, welche Kandidaten auf zu großem Fuß lebten und folglich für Zuwendungen empfänglich waren. Die Schwäche eines Menschen durchzieht den Charakter. Das Defizit trägt viele Namen. Der Wunsch nach Anerkennung ist ein Fass ohne Boden. Wer einen Schmeichler nicht zurückweist, lässt sich auch bestechen.

Im Fall von Julius Steiner ist nichts interessanter als die Behauptung Brandts, der Parlamentarier habe doppelt kassiert. Karl Wienand, 1972 Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD, soll im Auftrag der Doppelspitze Brandt/Bahr Steiner mit fünfzigtausend Mark bewogen haben, sich der Stimme zu enthalten.

Der „Macher“ Schmidt passte in die neue Zeit als „Vorstandsvorsitzender der Deutschland AG“. Er herrschte mit größerer Zustimmung seiner Gegner:innen als sein Vorgänger, der ständig unter der Gürtellinie angegriffen worden war. Barzel musste noch abserviert, der junge Kohl erst einmal an Franz Josef Strauß vorbei installiert werden. Schmidt konnte Luft holen, Fehler machen. Der Aktionismus der Roten Armee Fraktion rettete ihm den politischen Arsch. Alles, was sich als Hamburger Sturmflut und übergesetzlicher Notstand verkaufen ließ, war gut für Schmidt.

So geht es weiter

Helmut Kohls „geistig-moralische Wende“ und Ronald Reagans rigoroser Antikommunismus stärken die Lobby der „Berlin Rangers“. Beinah über Nacht erlebt die in Charlottenburg basierte Cold-War-Brotherhood einen Aufschwung, mit dem kein Haudegen mehr gerechnet hat. Plötzlich hat der Berliner Staatsschutz wieder Verwendung für die verkappte Miliz und ihre unorthodoxen Praktiken. Dazu bald mehr.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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