Jamal Tuschick - Lieblingskind

#TexasText/Jamal Tuschick Adem kommt in die Trattoria, gerade als Nora an allen vorbeirauscht. Nora spricht noch mit ihrem Vater, zumindest erwidert sie seinen Gruß, anders als ihre Schwester Ella, die am Tourette-Syndrom zu leiden beginnt, sobald „der Erzeuger“ ...

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Lieblingskind

Manchmal kommt Marion N., geschiedene Koyuncu, nach Kraichhain. Es gibt alte Verbindungen, Bekannte, Verwandte. Ihr Ex-Mann, der Unternehmer Adem Koyuncu, steht nie auf Marions Besuchsliste. Nora, die älteste Tochter der beiden, taucht ständig im Kaff auf. Ihre beste Freundin ist die einzige Tochter des Paten von Kraichhain. Luciano Montana gibt den zupackend-herzhaften Gastwirt und hilfsbereiten Nachbarn. Er kann alles besorgen. Wenn Sie ihn morgens um zwei aus dem Bett klingeln, weil Ihr Keller unter Wasser steht, hat er die Pumpe schon gut gelaunt in der Hand. Seiner Umgebung erscheint er gleichermaßen tüchtig und treuherzig. Seit einer Weile fühlt sich Nora auch zu Julias Bruder Jumbo hingezogen. Sie glaubt, dass ihre unbegrenzte Zugangsberechtigung im Reich der Montanas bei der Tarnung ihrer Absichten hilft. Die Vorstellung, Meister der Camouflage mit einem adoleszenten Repertoire hinters Licht führen zu können, verfehlt die Realität auf der ganzen Linie.

Familienleben in der Gaststätte. Jumbo hat ständig eine Hand in der Hose, als würde ihm da sonst was fehlen. Der älteste Sohn des Kalabresen will bestimmt nicht unmanierlich erscheinen. Seine Posen sind ihm nicht bewusst. Er steht im Zentrum groß-familiärer Obhut wie ein Mastochse angepflockt vor einem Nahrungsüberangebot. Jumbo ist nicht nur fett und faul, er ist auch von milder Gleichgültigkeit. Man hat ihn bis zur Formlosigkeit verwöhnt und seiner Eigenständigkeit beraubt. Er verschluckt Laute, sodass die Leute raten müssen, was er gesagt haben könnte, bevor er es selbst vergisst. Nora stört das nicht. Sie trägt ein Kleid, das so sitzt, dass sie darin nicht vernünftig sitzen kann.

Jumbo übersieht Noras Interesse an seiner Person. Er fährt lieber zur Casa della Chiocciola (Schneckenhaus), als sich den Belastungen einer festen Beziehung mit wiederkehrenden Verpflichtungen auszusetzen. Jumbo spürt Suchtdruck. Er braucht einen Schuss TV. Nicht, dass Sendungen im Nachmittagsprogramm ihn von Langeweile befreien könnten. Er ruft Luca, seinen jüngsten Bruder, weil er zu faul ist, selbst nach der Fernbedienung zu angeln. Lucas Hilfsbereitschaft tarnt Gerissenheit. Er peilt die Lage mit einem Blick. Luca durchschaut Jumbo mit der Erbarmungslosigkeit eines kühlen Kopfes. Er erkennt und würdigt das Potenzial seiner Eltern. Geld findet man im Haus der Montanas in jeder Ritze. Eis gibt es rund um die Uhr. Luca amüsiert der träge Sack, den Gott zu seinem ältesten Bruder gemacht hat. Das ist kein Gegner.

Adem kommt in die Trattoria, gerade als Nora an allen vorbeirauscht. Der Geschäftsbetrieb ruht noch, aber der Privatbär tobt. Nora spricht noch mit ihrem Vater, zumindest erwidert sie seinen Gruß, anders als ihre Schwester Ella, die am Tourette-Syndrom zu leiden beginnt, sobald „der Erzeuger“ ihr begegnet. Adem verlangt regelmäßig Entschuldigungen, die er nicht kriegt. Ella dreht vollkommen frei, sobald es um Adem geht. Jeder Versuch, sie einzuspinnen ins Vertraute und die alte Gemeinschaft wieder aufleben zu lassen, schlägt fehl. Ella sucht den Skandal. Angeblich belastet sie die Schande, von Adem abzustammen. Sie ist von Geburt an seine Lieblingstochter. Adem weiß, man soll kein Lieblingskind haben, und wenn doch, soll man es für sich behalten.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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