Heinrich von Kleist/Jamal Tuschick - Vereist auf einem Gipfel der Förmlichkeit

#TexasText/Jamal Tuschick Der versöhnliche, in den Niederungen einer trivialen Auflösung changierende Novellenschluss, wirkt wie angepappt

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Vereist auf einem Gipfel der Förmlichkeit

Der versöhnliche, in den Niederungen einer trivialen Auflösung changierende Novellenschluss, wirkt wie angepappt. Die Permanenz der Krise mündet in familiärer Gemütlichkeit. Juiletta bringt „eine ganze Reihe von jungen Russen“ zur Welt. Sie vollendet sich in einem konventionellen Rahmen, der das Vorangegangene, zumal den individuellen Aufruhr, in eine degradierende Klammer zieht.

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Schließlich gibt Julietta von O…. ihre Schwangerschaft per Zeitungsannonce bekannt. Der Verursacher solle seine Anonymität aufgeben und in eine Hochzeit einwilligen.

„Der Forstmeister (Juliettas Bruder) fragte, ob ... (der furiose Russe) nicht glaube, dass die Person, die die Frau Marquise suche, sich finden werde? - Unzweifelhaft! versetzte der Graf.“

Für den Kommandanten und die Obristin verzehnfacht die Annonce ihrer Tochter alle Peinlichkeiten. Lorenzo lässt ein Porträt von Julietta aus dem Wohnzimmer entfernen, frei nach der Devise aus den Augen, aus dem Sinn.

„Am nächsten Zeitungstage“ erfährt Juliettas Mutter beim Frühstück aus „einem (noch druckfeuchten) Intelligenzblatt“, dass die publizistische Offerte der Tochter nicht resonanzlos bleibt.

„Wenn die Frau Marquise von O... sich, am 3ten ... 11 Uhr morgens, im Hause des Herrn von G..., ihres Vaters, einfinden will: so wird sich derjenige, den sie sucht, ihr daselbst zu Füßen werfen.“

Der verbockte Kommandant erkennt auch in dieser Notiz nur eine Finte. Ihm erscheint Julietta unrettbar verworfen. Das A... hintertreibt das Arrangement, mit dem die Tochter ihre Ehe wiederherzustellen hofft. Er verwehrt Julietta eine Begegnung mit der ominösen Person in seinem Haus. Die Obristin strebt indes eine vermittelnde Position an. Allein, ihr Gatte erstarrt im erbitterten Eigensinn. Da ermächtigt sich die Mutter und fährt zur Tochter, um sie zu examinieren. Die Marquise bereitet ihr einen ehrfürchtigen Empfang; sich sehnend nach familiärer Vertraulichkeit. Stattdessen versucht die Ahne, sie über den Tisch zu ziehen. Frau von G... behauptet, der Verfasser der Antwort auf Juliettas Anzeige sei am Vorabend bereits vorstellig geworden. Sie schildert eine Person „von niedrigem Stande“, die keine Ansprüche stellen dürfe.

Ich will Sie, lieber Leser:innen, nicht auf die Folter spannen. Die Mutter präsentiert Julietta den mitgebrachten Jäger Leopardo als Bräutigam. Im nächsten Augenblick findet sie Gründe, die List zu offenbaren.

„Du sollst bei mir dein Wochenlager halten; und wären die Verhältnisse so, dass ich einen jungen Fürsten von dir erwartete, mit größerer Zärtlichkeit nicht und Würdigkeit könnt ich dein pflegen. Die Tage meines Lebens nicht mehr von deiner Seite weich ich.“

Der ganzen Welt will sie trotzen und jede Infamie zurückschlagen, da sie das gerade Herz ihrer Tochter endlich erkannt. Sie ereifert sich bis zum Fieber; bedarf nun der Schonung, wenn auch nur für eine Nacht. Am nächsten Tag führt sie die untadelige Tochter im Triumph zurück in die Feste der Dynastie und weist Julietta das vertraute Zimmer an.

Der Kommandant leistet Abbitte. Er gebärdet sich „ganz konvulsivisch“. Die Wiedervereinten steigern sich bis zur Seligkeit. Am Ende sitzt Julietta „auf des Kommandanten Schoß“. Er belangt sie mit „lange(n), heiße(n) und lechzende(n) Küsse(n) … gerade wie ein Verliebter“.

Kleist vergleicht Vater und Tochter mit Brautleuten. Noch an der Abendtafel spielt der Alte mit den Fingern der Tochter. Er will sogar den Enkel adoptieren. Julietta möchte das Kind lieber Zuwendungen des leiblichen Vaters erleben lassen.

Zur angezeigten Stunde erscheint Leopardo: in einer Szene wie in einem Bauernschwank. Der Domestik meldet den Graf F... Die Marquise befiehlt die Verrammelung sämtlicher Zugänge. Doch ist der Graf schon da, „in genau demselben Kriegsrock, mit Orden und Waffen, wie er sie bei der Eroberung des Forts trug“.

Julietta drohen die Sinne zu schwinden.

„Der Graf … (fasst) leise ihre Hand, als ob sie von Gold wäre.“

Vehement weist Julietta ihn zurück. Sie heiratet ihn dann doch, wenn auch wie vereist auf einem Gipfel der Förmlichkeit. Nach der Trauung zieht sie sich in ihr Elternhaus zurück und kommt nicht mehr zum Vorschein.

Der schneidige Weltmann nimmt sich eine Wohnung vor Ort, um wie ein Verbannter in M... zu leben. Nach der Entbindung der Gräfin von einem Sohn, wird er zur Taufe eingeladen. Er beschenkt seinen Stammhalter fürstlich. Nun setzt eine Lockerung ein und bald empfängt die Gattin den Grafen jeden Abend in ihrer Sphäre.

„Er fing, da sein Gefühl ihm sagte, dass ihm von allen Seiten, um der gebrechlichen Einrichtung der Welt willen, verziehen sei, seine Bewerbung um die Gräfin, seine Gemahlin, von neuem an.“

Der versöhnliche, in den Niederungen einer trivialen Auflösung changierende Novellenschluss, wirkt wie angepappt. Die Permanenz der Krise mündet in familiärer Gemütlichkeit. Juiletta bringt „eine ganze Reihe von jungen Russen“ zur Welt. Sie vollendet sich in einem konventionellen Rahmen, der das Vorangegangene, zumal den individuellen Aufruhr, in eine degradierende Klammer zieht. Einmal noch bespricht das Paar den fatalen Ausgangspunkt. Die Gattin erklärt sich. Gefasst darauf, einen Verworfenen zu treffen und in seinem bösen Schatten - ihre Unschuld büßend - zu verkümmern, um die gesellschaftlichen Kontributionen zu erfüllen, sei sie vor G … (zunächst) geflohen wie vor einem Teufel.

„Er würde ihr damals nicht wie ein Teufel erschienen sein, wenn er ihr nicht, bei seiner ersten Erscheinung, wie ein Engel vorgekommen wäre.“

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

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