„Das war mäßig lustig“

Interview Jurek Becker schrieb Postkarten mit literarischem Mehrwert. Seine Witwe Christine hat daraus ein Buch gemacht
Ausgabe 29/2018

Jurek Becker, der vor 21 Jahren starb, war ein leidenschaftlicher Postkartenschreiber. Unzählige davon befinden sich im Nachlass des Schriftstellers in der Berliner Akademie der Künste. Vierhundert dieser Postkarten hat seine Witwe, Christine Becker, nun in einem Band herausgegeben.

der Freitag: Sagen wir „Ihr Mann“ oder Jurek Becker?

Christine Becker: Wir sagen Jurek Becker.

Jurek Beckers Lektor Raimund Fellinger fragte einmal, welcher Schriftsteller kein Kotzbrocken sei. War er ein Kotzbrocken?

Nein, in seinem Verhältnis zu Freunden, aber auch Menschen, die er gerade kennenlernte, war er ein außerordentlich charmanter und freundlicher Mensch. Aber selbstverständlich hatte er Qualitäten, die denen eines Kotzbrocken näherkommen, aber die er für Menschen reserviert hatte, die ihm ganz besonders nahestanden.

... oder aber für Menschen, die ihn mit Lärm belästigten.

Wenn seine Arbeit gestört wurde, konnte ihn das in den Wahnsinn treiben! Braucht ein Schriftsteller Kotzbrockenqualitäten? In gewisser Weise ja, jeder Künstler braucht sie. Der künstlerische Partner muss darum kämpfen, dass seine Kunst vorrangig ist.

... und nicht einkaufen gehen?

Den Dichter darf man zum Klopapierkaufen schicken.

Konnte der Dichter das?

Ja, das konnte er. Nur gestritten hätte er sich in seiner Mittagspause nicht. Jemand, der ein künstlerisches Ziel verfolgt, muss auch seine Liebsten auf Abstand halten.

Streiten gehörte zur Beziehung?

Definitiv!

Zur Person

Christine Becker war von 1986 bis zu seinem Tod 1997 mit Jurek Becker (Jakob der Lügner; Amanda Herzlos)verheiratet. Mit Am Strand von Bochum ist allerhand los« (Suhrkamp 2018, 32 €) hat sie nun eine Reihe von Beckers Postkarten herausgegeben

Foto: dpa

Hat ihn das erschreckt?

Nein, er war der größte Brüller von allen! Ganz im Gegenteil, es hat ihm gefallen, endlich mal jemanden zu treffen, der ihm gewachsen war. Wir fanden das sehr befreiend und wirksam. Er konnte unglaublich explodieren, war kurze Zeit später aber wieder versöhnlich.

Sind Sie hauptberuflich Witwe?

So hat es angefangen, ich wurde die Witwe von Jurek Becker. Dann hat es sich gewandelt. Bei meinem ersten Buch, den gesammelten Briefen, habe ich mich noch mehr als Ehefrau gefühlt. Ab dem zweiten Buch bin ich sehr viel sachlicher vorgegangen. Bei der Auswahl der Essays und Interviews war ich emotional nur noch gering beteiligt. Ich wusste dann, ich bin die Herausgeberin des Werks.

Hat Jurek Becker das verfügt?

Ja, er wollte unbedingt, dass sein Werk aus einer Hand betreut wird. Da ich als Literaturwissenschaftlerin der Sache am nächsten Stand, war es auch logisch, mich zu wählen. Sonst hat ihn sein Nachlass wenig interessiert. Es war nichts geordnet oder vorbereitet. Er hat sein Zimmer verlassen, als würde er morgen wiederkommen.

Leiden Sie unter dem Etikett der ewigen Ehefrau?

Ich habe weder jetzt noch zu Lebzeiten darunter gelitten, die „Ehefrau von“ zu sein. Das liegt aber auch daran, dass ich keine künstlerischen Ambitionen habe.

Haben Sie nie damit gehadert?

Nur einmal, als er starb. Ich war nicht mal 37 und fragte mich: Hätte ich nicht ein ganz normales Leben wählen können? Aber die Frage ist sinnlos. Ich habe dann diesen „Beruf“ gewählt, für den ich auch noch ausgebildet bin: Ich habe in einem Verlag gelernt und Literaturwissenschaft studiert.

Wovor schützen Sie sein Werk als Nachlassverwalterin?

Generell habe ich ihn vor allem bewahrt, was seine Qualitäten als Schriftsteller hätte angreifen können. Meine Aufgabe ist es, dieses Bild nicht zu beschädigen, sondern auf dem Niveau zu vervollständigen, welches er vorgegeben hat. Zum Beispiel hat er festgelegt, dass Jakob der Lügner nicht auf die Bühne darf. Einmal habe ich mich darüber hinweggesetzt.

Warum dauerte es so lange, die Postkarten zu publizieren?

Das war ein schrittweiser Prozess und begann mit der Lesung im Jahr 2012, bei der eine Mitarbeiterin von Random House Audio daran Gefallen fand und dann den Suhrkamp Verlag davon wissen ließ. Zu meinem großen Glück wurde zu dieser Zeit Raimund Fellinger Lektor für Jureks Werk. Wir haben überlegt, was man noch publizieren könnte, ein Erinnerungsband stand im Raum. Dann fragte mich Herr Fellinger vorsichtig nach den Postkarten. Viele musste ich erst mal bei den Adressaten erbitten und konnte dann eine größere Sammlung an den Verlag senden. Fellinger ist viel beschäftigt und ich bin wählerisch, das dauerte dann ein paar Jahre.

Warum sind Sie so wählerisch?

Von den 1.000 erschlossenen Postkarten sind 400 an mich und die Frage war, wie wir die Auswahl gewichten. Der typische Postkartenschreiber Jurek Becker tritt eher bei den Postkarten an Freunde zutage. Bei Karten an mich wollte er gerne auch mal gute Stimmung machen.

... wenn er Ihnen als ein vermeintlicher Geliebter schrieb ...

Ich liebe diese Karten, die sind so komisch! Und, der Inhalt war auch ein wenig an die Nachbarin gerichtet, die uns die Post holte (lacht).

Wie war es, die Karten zu lesen?

Es hat mich gebeutelt, insbesondere die Karten an mich. Als aber feststand, dass wir den Band wie alle anderen Suhrkamp-Briefwechsel kommentieren, nämlich völlig sachlich, fiel mir die Rolle gleich viel leichter, denn ich war wieder die Herausgeberin und nicht die Adressatin.

Wo ist das Buch entstanden?

Der Großteil hier in der Wohnung, am Esstisch. Die Schlussphase fand im Suhrkamp Verlag statt.

Hat Jurek Becker an diesem Tisch auch Postkarten geschrieben?

Nicht auszuschließen. Dieser Esstisch stand in seinem Landhaus in Sieseby, in dem er in den 90ern viel schrieb. Aber die meisten Karten schrieb er unterwegs, oder aber in seinem Arbeitszimmer.

Gibt es das noch?

Ja, es ist über der Wohnung und die meisten Sachen stehen noch so, wie er sie hinterlassen hat.

Warum ein Landhaus in Deutschland, nicht in Südfrankreich?

Er betrachtete Deutsch als seine zweite Sprache, in der er Literatur verfasste. Er hatte die Sorge, dass ihm das nicht in einem anderssprachlichen Umfeld gelänge.

Aber Sie haben lange Reisen in die USA unternommen?

Ja, dort hätte er aber nie einen Roman oder ein Drehbuch geschrieben. Das Landhaus in Sieseby war ein Ort des Schreibens und gleichzeitig Ruheort.

Jurek Becker hat seine Postkarten in Schulheften vorskizziert.

Das hatte er schon vor meiner Zeit begonnen, er nutzte DIN-A4-Hefte mit zartgrünem Umschlag – wenn ich mich da jetzt nicht „verinnere“. Die Hefte waren für alles da: Auf der einen Seite konnte ein Vortrag entstehen, auf der anderen eine Postkarte.

Eigentlich lohnt sich das Lesen allein der Anreden wegen.

Oh mein Gott!

Waren Sie gerne seine „Luftpumpe“ und sein „klarer Fall“?

Nein! Alle finden es toll und selbst in Kritiken lese ich, dass sei Ausdruck seiner Liebe gewesen. Ich fand das damals mäßig lustig, vielleicht eine von zehn Anreden war sehr lustig. Ansonsten habe ich mich da nicht überschlagen vor Freude – bezogen auf die Anrede. Ich wäre lieber „Liebe Christine“ gewesen. Im Rückblick hat es mich noch mehr geärgert, weil ich bei der Sichtung des Konvoluts sah, dass alle anderen „richtige“ Anreden bekamen. Ich bin mindestens dreimal eine Butterbrezel!

Konnten Sie konzipierte und spontane Karten unterscheiden?

Bis 1987 schrieb Jurek seine Karten spontan auf Reisen. Erst bei unserem längeren USA-Aufenthalt in Texas steigerte sich die Anzahl seiner verschickten Karten. Aus meiner Sicht entwickelt er dort erstmals das Genre des professionellen Postkartenschreibens. Er wollte mehr unterhalten als Informationen mitteilen. Die Empfänger bekommen kleine, teils erfundene Geschichten gesendet. Erst in den 90ern, in denen er die meisten Karten verschickte, begann er, die Texte zu konzipieren.

Ein literarisches Genre?

Er hat eines daraus gemacht!

Dachte er an Veröffentlichung?

Ein Freund von ihm fand, die Karten seien zur Veröffentlichung bestimmt. Er selbst sah das als etwas an, was postum geschehen könne. Jurek hat sehr für den Augenblick und den Empfänger gearbeitet.

Hat er über die Karten geredet?

Nein, das war kein Thema.

Warum diese Auswahl?

Die Fragen waren: Ist die gut geschrieben? Ist die witzig? Als wir wussten, dass wir mehr Karten aufnehmen würden, kamen noch andere Kriterien dazu. Es wurden auch Karten berücksichtigt, wenn sie eine kleine Nachricht über den Autor enthielten. Er hat nicht gerne über sich Auskunft gegeben und gab, manchmal nur durch seine Unterschrift, doch etwas preis. Weitere Karten wurden ausgewählt, wenn es dramaturgisch passte und sich damit Erzählbögen schlossen.

Wie geht es heute Jurek Beckers Werk?

Er ist ein erstaunlich präsenter Autor, dafür, dass er vor 21 Jahren verstorben ist. Zum einen gibt es seine noch bestehende Leserschaft, die meistens alles von ihm gelesen hat, und zum anderen sind es Schüler, die insbesondere Jakob der Lügner lesen; ein Dauerseller.

Warum wurde er in der DDR nicht wegen seiner Aufmüpfigkeit kaltgestellt?

Er war schon so früh so berühmt, dass sie sich das nicht getraut haben. Allerdings sind auch bekannte Autoren eingesperrt worden. Vielleicht hatten sie Respekt vor ihm, weil er so hemmungslos war und nicht taktierte. Er wollte das Projekt Sozialismus realisiert haben und sah sie nicht als Feinde, hatte aber seine eigenen Vorstellungen, wasin diesem Verhältnis möglich war oder auch nicht. Seine Meinung ließ er sich nicht verbieten. Sie haben ihn dann gerne gehen lassen, denn er war zu unbequem. Er fürchtete sich nie vor Stasi-Mitarbeitern, da er immer die gleiche Haltung vertrat. Sie ließen ihn in die USA ziehen, weil sie wussten, er würde keine Schmutzkübel über sie auskippen; und so war es dann auch.

Was würde er über den Erfolg der AfD sagen?

Er wäre hell entsetzt! Langsam wird es schwierig in Europa. Ich weiß nicht, wohin wir emigriert wären, aber ich weiß, dass er sagte, sobald die Republikaner im Parlament säßen, verließe er das Land. Das kann man sicher auch für die AfD gelten lassen.

Ihr Mann stand der SPD nahe. Was würde er heute zur Sozialdemokratie sagen?

Er würde den Mangel an Zustimmung bedauern, weil er das als eine Gefahr für die Demokratie ansähe. Denn es ist ja so, dass die beiden sogenannten Volksparteien derartig Federn gelassen und die anderen zugewonnen haben. Er hätte versucht, im Wahlkampf aktiv zu werden.

Jurek Becker wurde kurz vor seinem Tod noch einmal Vater.

Dieses letzte Jahr mit dem kleinen Kind war nicht von Bedauern geprägt. Er hat dann noch mal alles gegeben, um einen Vorrat anzulegen. Das Kind sollte nicht spüren, dass etwas Schlimmes passiert, sondern die Zeit sollte maximal ausgenutzt werden. Das hat er geschafft, denn sein Sohn sagte noch als Kind im Rückblick, sein Vater habe ihn so geliebt, das reiche für ein ganzes Leben.

Warum enden die Postkarten etwas vor seinem Tod?

Sie können davon ausgehen, dass es ihm nicht mehr gutging. Er hat nach dieser Karte an seine Frau am 31. Januar bis zu seinem Tod am 14. März 1997 keine Karte mehr an irgendwen geschrieben.

Wenn er jetzt klingeln würde, was würden Sie zu ihm sagen?

„Setz dich, du warst so lange weg, es gibt so viel zu erzählen!“

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