Wir Voyeure

Interview Wieso brauchen viele Blut vor dem Einschlafen? Was suchen wir in Krimis? Der Schweizer Verleger Daniel Kampa hält es mit Simenon
Ausgabe 15/2019
Partners in Crime: Georges Simenon (l.), Daniel Kampa
Partners in Crime: Georges Simenon (l.), Daniel Kampa

Fotos: David Montgomery/Getty Images, Simon Habegger/13 Photo (rechts)

Zürich, vormittags um elf. Mit der Straßenbahn den Berg hoch, an einer Kleingartensiedlung vorbei und dann quer durch eine öffentliche Garage. Daniel Kampas Haus steht einsam am Berg, es ist Verlag und Wohnung. Das Gespräch findet in Kampas privatem Wohnzimmer statt, ein Fernseher ist nicht zu entdecken.

der Freitag: Herr Kampa, wann wurde das letzte Mal auf Ihrer Couch gemordet?

Daniel Kampa: Soweit ich weiß noch nie! Aber ein Freund kippte mal ein Glas Rotwein über meine alte Couch. Da sah es wirklich so aus, als hätte jemand einen Doppelmord begangen. Sie eignet sich aber perfekt zum Lesen von Krimis. Von daher haben Sie schon recht: Auf meiner Couch wird regelmäßig gemordet – aber mit Stil!

Was ist ein guter Krimi mit Stil?

Er muss gut geschrieben und spannend sein, schon der erste Satz muss mich fesseln. Ein Patentrezept gibt es aber nicht. Schauen Sie sich Simenon an: Seine Sprache ist einfach, die Plots sind nicht sehr ausgefallen, aber jeder seine Romane entwickelt einen Sog. Es sieht so leicht aus und nicht wenige haben versucht, ihn zu imitieren. Aber echte Kunst lässt sich nicht nachmachen.

Daniel Kampa, geboren 1970, wuchs in Deutschland, Frankreich und Luxemburg auf, er studierte Wirtschaftswissenschaften und Publizistik. 1994 kam er zum Diogenes Verlag und war von 2013 bis 2017 Verleger des Hoffmann und Campe Verlags. Dann gründete er in Zürich den Kampa-Verlag

Hat Diogenes eigentlich Killer auf Sie angesetzt?

Natürlich nicht, wieso? (lacht)

Sie gründen einen Verlag und nehmen dem, bei dem Sie vorher waren, Simenons Werk weg.

Das wird viel zu sehr dramatisiert. Dass Autoren den Verlag wechseln, hat es immer gegeben und wird es immer geben. Simenon ist kein großer Bestsellerautor, sodass Diogenes keine finanziellen Einbußen hat. Im Gegenteil, man muss eher investieren.

Wie kamen Sie eigentlich zu den Maigrets und Non-Maigrets, den Kriminalromanen und hundert anderen Schriften von Simenon?

Es ist eine glückliche Fügung, vor allem aber eine Entscheidung von Simenons Erben. Ich finde den Mut des Sohns von Georges Simenon beeindruckend und bin ihm sehr dankbar. Er hat einem neu gegründeten Verlag ohne Kapitalnachweis das Werk seines Vaters anvertraut. Das ist ein großer Vertrauensbeweis. Ihm war die persönliche Beziehung sehr wichtig und die Idee für eine Neuedition, und damit konnte ich ihn wohl überzeugen.

Mein Buchhändler winkte bei „Maigret“ ab.

Ja, Simenon ist nicht Fitzek, den jeder Buchhändler haben will. Man muss ihn den Leuten näherbringen. Klar ist, dass man von den Maigret-Romanen nicht Hunderttausende verkauft. Das Werk Simenons ist aber nicht nächste Saison tot, er ist ein ewiger Backlist-Seller – seine Bücher werden immer gelesen.

Trotzdem editieren Sie ihn neu, um mehr Leser zu bekommen?

Wenn ein Autor tot ist, ist es das Schwierigste, sein Werk am Leben zu erhalten. Die Buchhändler haben wenig Platz, es gibt unvorstellbar viele Neuerscheinungen, und das führt dazu, dass verstorbene Autoren verschwinden. Durch neue Ausstattungen, Neuübersetzungen und Nachworte etwa kann das Interesse wieder geweckt werden. Nur Nachdrucken hilft nicht.

Viele Maigrets sind in den 1930er-Jahren entstanden. Was macht sie für heutige Leser reizvoll?

Im Krimi-Genre hat Simenon etwas ganz Neues erfunden, und das macht ihn unsterblich: Er setzt auf Intuition statt auf Indizien, wie zum Beispiel Agatha Christie es tat. Die Handlung ist unwichtig, es geht um Psychologie. Nicht wer der Täter ist, ist die zentrale Frage, sondern warum jemand zum Verbrecher geworden ist. Bei Agatha Christie sind die letzten zehn Seiten wichtig, bei Maigret die ersten 180. In den 1930er Jahren war das ein entscheidender Schritt für den Krimi, der ja lange nicht literarisch ernst genommen wurde.

Wie empfinden Sie das Bild, das Simenon von Frauen zeichnet?

Darauf kann ich nur mit einem Lesetipp antworten. Es gibt einen wunderschönen Maigret, in dem seine Frau im Mittelpunkt steht und den Fall löst: Madame Maigrets Liebhaber. Das ist eine Ausnahme, für gewöhnlich steht seine Frau in der Küche und hegt und pflegt den arbeitenden Kommissar. Man darf dabei nicht vergessen, dass Simenon mit Maigret ganz bewusst einen sehr bürgerlichen Protagonisten erschaffen hat, im Gegensatz zu den damals üblichen Superhirnen und Meisterdetektiven à la Sherlock Holmes oder Hercule Poirot. Maigret-Romane leben von der Nostalgie, und dazu gehört auch das damalige Rollenverständnis.

Lassen Sie sich selbst in diese Nostalgie fallen? Wie liest ein Verleger?

Zu wenig! Ich würde am liebsten den ganzen Tag und die ganze Nacht lesen, weil es einfach das Schönste ist. Das Gute an einem kleinen Verlag ist, dass es weniger Administration gibt. Ich hasse Sitzungen, und daher regeln wir hier das meiste bei Spaziergängen und gemeinsamen Mittagessen.

Administration kann töten?

Ja, das sollte man nie vergessen. Wir bringen pro Saison 30 bis 40 Titel, und das ist genau die Zahl an Büchern, die jeder hier auch wirklich lesen kann. Da ich mit meinem Namen für den Verlag stehe, will ich jedes Buch auch gelesen haben. Alles andere wäre peinlich.

Schwierig, das Niveau Simenons zu halten, wenn aus einem Krimi wahre Literatur wird.

Natürlich. Weil wir der Simenon-Verlag sind, müssen wir bei der Auswahl anderer Krimis darauf achten, dass sie unserem Qualitätsanspruch gerecht werden. Wir veröffentlichen weiter Krimiklassiker, sind aber auch immer auf der Suche nach neuen Krimiautoren, um weitere neben Simenon zu etablieren. Unsere kanadische Krimiautorin Louise Penny war letztes Jahr auf Platz zwei der Krimibestenliste, was uns sehr gefreut hat.

Warum ist die äußere Gestaltung der Kriminalromane bedeutsam?

Bei den Maigretsverwenden wir Bilder der berühmtesten Fotografen des 20. Jahrhunderts: Cartier-Bresson, Doisneau, Brassaï ... Bei einigen besonders schönen Motiven fällt auf, dass die Bücher besser laufen. Die Maigrets bedienen ja stark die nostalgische Sehnsucht nach dem alten Paris. Die New York Times mutmaßte mal, dass Paris eigentlich eine Erfindung von Simenon ist.

Ohne durchgeschnittene Kehle geht der deutsche Leser nicht gern ins Bett. Warum gehören Krimis mittlerweile so zu uns?

Ich weiß es nicht. Brutalität ist nicht meins. Ich mag eher psychologische Krimis, die weniger zeigen, dafür aber umso mehr andeuten. Krimis sind beliebt, weil man als Leser in der Regel ein Happy End bekommt: Das Rätsel ist auf der letzten Seite gelöst, der Täter gefasst. Hinzu kommt, dass viele Krimis als Serie angelegt sind – mit Figuren also, die immer wieder auftreten. Und so ist jedes Buch für den Leser wie ein Nachhausekommen.

Das ist wie bei Netflix: Warum sollen wir dann noch lesen?

Weil es noch schöner ist, wenn man die Bilder selbst erschafft. Als Leser ist man sein eigener Regisseur.

Wie gewalttätig geht es in den von Ihnen verlegten Krimis zu?

Ich kann kein Blut sehen, daher muss es auch in meinen Büchern nicht in Strömen fließen. Es sind keine forensischen Krimis, die mit anatomischen Details aufwarten.

Welche menschlichen Abgründe haben Sie durch Krimis kennengelernt?

Man erkennt in gut erzählten Krimis, wie nah das Geschehen an einem selbst ist und was man daraus lernen kann. Wie hätte ich in der Situation reagiert? Was hätte ich getan? Am Anfang steht ein normaler Mensch, der aus seinem wohlgeordneten Leben gerissen wird. Oder wie John Banville über Simenons Romane sagt: „Sie zwingen uns dazu, uns die Nase am Fenster der Welt platt zu drücken und mit weit aufgerissenen Augen auf Dinge zu starren, die wir, das spüren wir, besser nicht sehen sollten, und dennoch können wir den Blick nicht abwenden.“

Inwiefern befriedigen Krimis auch unseren Voyeurismus?

Gute Literatur ist Voyeurismus, der den Voyeur letztlich auf sich selbst zurückwirft.

Wenn man pausenlos Krimis liest, wie verändert sich da der Blick auf Menschen?

Man kann sich Maigrets Lebensmotto einfach nicht entziehen: verstehen statt urteilen.

Gibt es den perfekten Mord?

Ich hoffe nicht, denn ein guter Krimi braucht einen unperfekten Mord, um spannend zu sein.

Wetten Sie mit anderen, wer der Mörder ist?

Ich wette immer mit mir selbst. Viel lesen übt. Aber als Leser möchte ich eigentlich falschliegen und mich überraschen lassen.

Was halten Sie von Krimi-Verfilmungen?

Um die Popularität und damit auch die Auflage zu steigern, ist eine Verfilmung das Beste, was einem Buch passieren kann. Die erste Maigret-Verfilmung entstand nur zwei Jahre nach Erscheinen des Romans. Das war 1933. Die Schwarz-Weiß-Verfilmungen mit Jean Richard finde ich grandios, aber ich muss gestehen: Ich lese einfach lieber.

Sie wohnen über dem Verlag: Fällt es Ihnen schwer, abzuschalten?

Überhaupt nicht, außer, dass ich keinen Arbeitsweg mehr habe und beim Pendeln nicht mehr lesen kann. Aber ich wollte nach der Geburt meiner Tochter wieder nach Zürich kommen, ich wollte kein Pendel-Papa sein. Für mich ist der Job nicht ein Job, es gibt sowieso keine Trennung zwischen Verlag und Privatleben. Praktisch ist, dass ich zwischendurch hochgehen und meine Tochter in den Arm nehmen oder, leider zu selten, einen Mittagsschlaf machen kann.

Wäre Ihnen der Verlag einen Ruin wert?

Sich wegen Büchern zu ruinieren, ist sicher nicht das Schlechteste. Aber warum den Teufel an die Wand malen?

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