Die soziale Kommunikation ist visuell geworden. In Netzwerken wie Facebook oder Twitter wird nicht allein durch Texte interagiert, sondern auch über Bilder. Eine Milliarde Dollar war Facebook vor zwei Jahren die Fotoplattform Instagram wert, die seinerzeit zwölf Mitarbeiter und kein Geschäftsmodell hatte.
Und es dauerte nicht lange, bis die Bilder in Bewegung gerieten. Bei Twitter gibt es Vine, einen Service für sechssekündige Clips in Dauerschleife; Facebook hat via Instagram auf zehn Sekunden erhöht, als es der eigenen Bilderplattform eine Videofunktion schenkte.
Die Faszination der kurzen Filme besteht darin, dass sie einen – wenn auch zumeist gestellten – Einblick in die Leben von etlichen Millionen Menschen geben. In Stand- oder Bewegtbild trifft Extrovertiertheit auf Voyeurismus. Dieses Wechselspiel bleibt allerdings auf die Freundeskreise der einzelnen Nutzer beschränkt.
Was möglich ist, wenn man die Potenziale der weltweiten Einzelbilderproduktion erkennt, zeigen Portale wie VineRoulette, Gramfeed und, vor allem, Vinepeek – eine unscheinbar anmutende Webseite (vpeeker.com), auf der öffentlich einsehbare Vine-Clips ununterbrochen aneinandergereiht werden. Alle sechs Sekunden ein neues Video, ein anderer Einblick. Vinepeek folgt der Chronologie des Uploads; zu sehen ist, was kürzlich auf die Plattform geladen wurde.
So erhält man eine Art Livestream aus dem Privatleben fremder Menschen, der keine Zeitzonen und Länder kennt. Man springt von einem verträumten Jazzgitarristen in Tokio über den Alltag britischer Schüler mit Zahnspangen hin zu kiffenden Möchtegernrappern in Orlando, um mit Fernfahrern in der Türkei die Landschaft zu genießen. Und obwohl man dabei viel Ausschuss – und ab und zu den Anblick enormer Geschlechtsorgane – in Kauf nehmen muss, fällt es schwer, wieder wegzuschauen. Vinepeek fesselt.
Man könnte es sich einfach machen und zur Erklärung Voyeurismus rufen, aber den Reiz von Vinepeek macht mehr aus. Auf der einen Seite sind Einrichtungen wie diese codegewordene Zuspitzungen der Serendipität, also Glücksfundmaschinen. Wir treffen auf etwas, was wir nicht gesucht haben – und es gibt nicht viel, was einen solchen Sog ausüben kann. Jeder, der sich einmal in Google verloren hat und Stunden später mit einem Mehr an Verständnis wieder aufgetaucht ist, kann das nachempfinden.
Auf der anderen Seite – und das ist vermutlich der größere Thrill – verbewegbildlicht VinePeek den Grad der Vernetzung, den die Menschheit mittlerweile erreicht hat. Der Bilderlauf beschert das betörende Gefühl, am Leben völlig fremder Menschen, die Tausende Kilometer von uns entfernt sind, teilhaben zu können. Scheinbar bekannte Dinge wie Zeitzonen oder kulturelle Unterschiede werden greif- und verstehbar. Vinepeek macht anschaulich, was es heißt, Teil dieses Planeten zu sein.
Vinepeek richtet also unsere Schaulust auf die Vorstellbarkeit der Weltgröße. Der Quell eines endlosen Bilderflusses funktioniert als 24-Zeitzonen-24/7-Big Brother für jedermann, ist Symptom und Anschauungsbeispiel einer sich vernetzenden Welt zugleich. Ihr dabei zuzuschauen ist ein fundamentales Vergnügen.
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