Was können wir mit diesem Buch machen, verfasst von dem größten politischen Verbrecher der Menschheitsgeschichte, der just in diesem Werk seine Rassenideologie, den blutigen Mordfeldzug des Zweiten Weltkrieges und den Holocaust literarisch-agitativ vorzeichnet? Die Veröffentlichung verbieten, sie mit historisch-kritischen Kommentaren der Öffentlichkeit preisgeben – oder ein Theaterstück inszenieren. Letzteres hat sich der junge polnische Regisseur Jakub Skrzywanek mit seinem Team am Warschauer Teatr Powszechny vorgenommen, einer für ihre politischen Inszenierungen bekannten Hauptstadtbühne. Seit Ende März spielt dort ein sechsköpfiges Ensemble Mein Kampf. Die Aufführungen sind seither stets ausverkauft. Festivals in Rumänien und den USA haben bereits bei den Warschauern angeklopft, Kuratoren aus Frankreich und Deutschland zeigen Interesse, das Stück wird landesweit in Polens Medien besprochen.
Unsere Verwicklung
Womöglich liegt dies daran, dass die vor gut einem Jahr gereifte Grundidee des 27-jährigen Theatermachers den Nerv der Zeit trifft. „Die im heutigen Polen am stärksten befürwortete politische Konzeption ist jene des nationalen Sozialismus – soziale Ideen werden mit dem nationalistischen Ideal zusammengefügt“, sagt Skrzywanek im Gespräch. In erster Linie geht es ihm um das gesprochene und das geschriebene Wort. „Die Sprache heute ist in der öffentlichen Sphäre und im Internet vielfach radikaler und aggressiver als jene Hitlers in ‚Mein Kampf‘ “, sagt er.
Deshalb basiert die knapp dreistündige Inszenierung fast ausschließlich auf Originalzitaten des 1926 erschienenen Buches. Das Bühnenbild wechselt zwischen realen Orten, wie dem Elternhaus Hitlers, und fiktiven, mitunter surreal wirkenden Räumen. Im ersten von drei Akten betten die Darsteller die Jugendzeit des künftigen Diktators in eine Art Dialog am Tisch in dessen Elternhaus ein – und alle sind Hitler. Die gesprochenen Passagen zeigen diesen in fast sympathischem Licht. Er erzählt von Kunst, von seiner Mutter und von dem Vater, gegen dessen Kleinbürgerlichkeit er opponiert habe. Der Vater sitzt den gesamten Akt über paralysiert im Rollstuhl, und man kommt nicht umhin, dies als Symbol für den Zusammenbruch der kaiserlich-bürgerlichen Ordnung der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zu sehen.
Es sind starke Bilder, die da, mitunter mit wenigen Worten, von der Geschichte auf die Gegenwart projiziert werden – in erster Linie, wenn auch nicht nur: die polnische. Denn das Stück sei ganz und gar nicht gegen Deutschland gerichtet, sagt Skrzywanek. So hatte sich einer der Darsteller gleich zu Beginn die weiß-rote Nationalflagge Polens ins Gesicht gemalt. Nun starrt er in einer langen, wortlosen Szene verächtlich und voller Hass in die Augen des durch seine Wiener Jahre erniedrigten und gestählten Hitler. Dieser wird von dem schwarzen Schauspieler Mamadou Góo Bâ verkörpert. In der Szene wird „der Andere“ zum Fremdkörper, der die „gesunde, reine Rasse“ infiziert. Es sind Momente wie dieser, in denen das Stück an Größe gewinnt.
Aus den auch ästhetisch langsamen Reflexionen des ersten Aktes folgt in Akt II und III die Hetze – es wird lauter, propagandistischer, schärfer. Die Darsteller, nun in knapper Athletenkleidung und in der Bildsprache von Leni-Riefenstahl-Filmen, verkörpern „die Massen“ und ätzen die folgenden Propaganda-Instruktionen Hitlers an seine Anhänger im tumben Stakkato. „Eine Nation, die aus physischen Schwächlingen und Pazifisten besteht, wird nicht überleben!“ Im finalen Akt hüllen sich die Darsteller in dicke, widerliche Menschenhäute und kopulieren zu einem polnischen Vorkriegschanson, um die „reinrassige“ Nation zu vergrößern. In der Szene zuvor hatten sie sich riesige Gesichtsmasken übergestreift: Donald Trump ist darunter, Papst Franziskus, EU-Ratspräsident Donald Tusk, PiS-Chef Jarosław Kaczyński – und Angela Merkel. Die Auswahl wirkt etwas befremdlich, ja beliebig, als scheuten die Macher die klare politische Zuspitzung. Skrzywanek aber will die Ausbreitung von Hass, Propaganda und Manipulation nicht nur rechten Politikern oder Parteien zuschreiben und nationalistischen Bürgerinnen und Bürgern. „Vielleicht ist die gesellschaftliche Landschaft, die der Wiedergeburt das nationalen Sozialismus in die Hände spielt, breiter – und unsere eigene Verwicklung in diesen Prozess größer, als wir denken.“
Nach all den Verboten und Debatten, und spätestens nach der Zurschaustellung dieses Machwerks im Theater – ausgewählte Aufführungen sind englisch untertitelt – bleibt vor allem ein Eindruck: Mein Kampf sollte gelesen werden, um – wie Hannah Arendt stets sagte – tiefer zu verstehen. Nicht nur Hitler und nicht nur den alten Nationalsozialismus. Die Theatermacher aus Warschau geben den Zuschauern eine Broschüre mit 23 nationalistischen, hasserfüllten Symbolen an die Hand, mit der Aufforderung: „Wenn du sie im öffentlichen Raum siehst: Reagiere!“„Ich würde das Stück gerne in Deutschland aufführen“, sagt Skrzywanek, „auch, um den Menschen die Furcht vor diesem Buch zu nehmen.“
Info
Mein Kampf Regie: Jakub Skrzywanek Teatr Powszechny, Warschau
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