Es wirkt auf den ersten Blick paradox: Eine ins Autoritäre drängende Regierung will unbedingt eine Wahl abhalten und verweigert die Ausrufung des Ausnahmezustands. Die Opposition will diese Präsidentenwahl verhindern und fordert den Ausnahmezustand. Wie fast alles Politische in diesen Tagen hängt diese Paradoxie mit der Corona-Krise zusammen. Letztlich zeigt sich, dass Jarosław Kaczyński als Chef der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und faktischer Staatenlenker dem Vorbild Viktor Orbán nacheifert. Der hat in Ungarn de facto das Parlament ausgeschaltet. Zwar ist es in Polen noch nicht so weit, doch inmitten der Corona-Krise will auch Kaczyński seine Macht auf illegitime Weise ausbauen. „In den 1990er Jahren wurde in Ungarn der Begriff ‚Expresszug aus Warschau‘ geprägt, weil die Ereignisse in Polen stets die in Ungarn überholten“, schreibt der Politologe Bogdan Góralczyk. „Wird nun der Express aus Budapest auf dem Hauptbahnhof Warschau einfahren?“
Ein „riesiges Risiko“
Kaczyńskis Hebel zu weiterer Machtkonzentration sollte die für den 10. Mai anberaumte Wahl des Staatspräsidenten sein. Der regierungsnahe Amtsinhaber Andrzej Duda könnte laut Umfragen mit einer Wiederwahl rechnen. Kein Wunder: Er ist der Einzige, der tatsächlich einen Wahlkampf führt und sich als Krisenmanager und Verkünder von Hilfsprogrammen in Szene setzt. Wie überall steigt in Polen die Zahl der mit dem Coronavirus Infizierten wie der Toten, wenn auch zuletzt auf niedrigerem Niveau als in Deutschland.
Das Präsidentenvotum verschieben wollen die wichtigsten Oppositionsbewerber wie drei Viertel der Bürger. Die für die Organisation der Wahl zuständigen Kommunen reklamieren, sie würden die Abstimmung weder bewältigen können noch wollen. Hunderte von Medizinern beklagen in einem Brandbrief ein „riesiges Risiko“ für gut 300.000 Wahlhelfer und Millionen von Wählern. Der PiS-Chef wollte bis zuletzt dennoch am Wahltermin festhalten. Die Wahlen seien „absolut möglich“, ließ er Ende März wissen. Doch dann sorgten steigende Krankenzahlen für so viel Druck, dass Kaczyński die nächste Karte aus dem Ärmel zog: Briefwahl für alle. Es drohte das organisatorische Chaos, denn der Senat, die von der Opposition dominierte zweite Kammer, hätte die Wahlrechtsnovelle bis Anfang Mai blockieren können, die Post protestierte, Juristen erhoben rechtliche Bedenken. Letztlich sorgte ein Koalitionär der PiS – die Gruppierung „Porozumienie“ des Konservativen Jarosław Gowin – für den Paukenschlag: Seine 18 Abgeordneten verweigerten sich der Briefwahl-Idee. Angesichts zunehmender Corona-Fälle „stehen wir im Angesicht von Leben und Tod. Die Wahlen am 10. Mai können nicht stattfinden“, sagte Gowin und schlug eine Verfassungsänderung vor, der freilich auch Teile der Opposition zustimmen müssten: die Verlängerung der Amtszeit Dudas um zwei Jahre, ohne Recht auf Wiederwahl. Die Opposition lehnte ab, die allein vertretbare Lösung könne nur „die Ausrufung des Naturkatastrophenzustandes“ sein, meinte der konservative Präsidentschaftskandidat Władysław Kosiniak-Kamysz im Namen der anderen Bewerber. Derart geblockt, trat Vizepremier Gowin am Montagmittag zurück, am Abend drückte die PiS-Mehrheit die Briefwahl-Ansetzung durch die erste Parlamentskammer. Den Katastrophenzustand will die Regierung, in der Porozumienie bleibt, partout nicht.
Allerdings kommen die von der Exekutive bisher beschlossenen Maßnahmen dem Ausnahmezustand bedenklich nahe, dies in einem zentralistischen Staat und zeitlich unbefristet. Aus Sicht vieler Juristen ein Verstoß gegen die Verfassung, die einen zeitlich klar umrissenen „Notstand“ vorsieht. Das „Forum der Zusammenarbeit der Richter“ urteilt, dass man mit den geltenden Beschränkungen den Katastrophenzustand quasi schon eingeführt habe. Weil der jedoch nicht offiziell proklamiert ist, vermeidet die PiS fällige Entschädigungen für Unternehmen und Arbeitnehmer, wie sie von der Verfassung für diesen Fall vorgesehen sind. „Derjenige, der über den Ausnahmezustand entscheidet, ist souverän. Derjenige, der über den Ausnahmezustand entscheidet, ohne den Ausnahmezustand offiziell zu verkünden, ist noch souveräner, er ist geradezu unerhört souverän“, schreibt der Regisseur Jan Klata.
Mehr Willkür geht kaum
So kommt es, dass die Pandemie in Polen jenseits der kaum absehbaren Folgen für Mensch, Arbeitsmarkt und Ökonomie eine Staats- und Demokratiekrise auszulösen droht. „Ob die Präsidentenwahl nun im Mai stattfindet oder aber später, könnte sich als zweitrangig erweisen – denn die PiS verfügt inzwischen über Mittel, um die Wahlen zu fälschen“, stellt der linksliberale Publizist und Buchautor Jacek Żakowski ernüchtert fest. Tatsächlich steht demnächst die Neubesetzung des Obersten Gerichts (SN) an, das für die Prüfung von Wahlbeschwerden zuständig ist. Da die PiS während der letzten Jahre in Sachen Demokratieabbau nicht untätig war, hat sie nicht nur die Unabhängigkeit der Gerichte massiv geschwächt. Es wurden staatseigene Unternehmen mit eigenem Personal besetzt oder wie jetzt Anti-Krisen-Gesetze erlassen, die dem Rat des Sozialdialogs (RDS) gelten. Das aus Regierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften bestehende Gremium muss bei Arbeitsmarktgesetzen gehört werden – etwa bei der Festlegung der Mindestlöhne. Nun aber darf der Ministerpräsident jedes Mitglied des RDS relegieren, das „den Handlungen des Rates untreu wird“. Mehr Willkür geht kaum.
Soeben verabschiedeten 13 EU-Staaten eine Erklärung, in der sie sich „zutiefst besorgt“ über die Verletzung von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Grundrechten in der Virus-Krise zeigten. Die ungarische Regierung, Zynismus nicht abgeneigt, schloss sich dem Statement an – die polnische nicht. „Die nahende Krise wird wahrscheinlich die Spielregeln, die uns so stabil erschienen, außer Kraft setzen; viele Staaten werden mit der Krise nicht fertig werden, und aufgrund ihrer Auflösung wird eine neue Ordnung zum Leben erwachen, wie es nach Krisen oft der Fall ist“, schreibt die polnische Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk. „Es kommen neue Zeiten.“ In Polen bisweilen mit Jarosław Kaczyński, einem Mann von gestern, als informellem Staatsführer.
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