Es gibt in Polen eine bis heute erinnerte Tradition, die einst zum Zerfall der Großmacht Polen-Litauen beitrug. Gemeint ist das Liberum Veto. Es sicherte den Gesandten des Adels, die eine Art aristokratisch-demokratisches Parlament (Sejm) bildeten, erheblichen Einfluss. Es bestand darin, dass eine Gegenstimme ausreichte, um einen Beschluss zu verhindern, selbst wenn alle anderen Vertreter dafür stimmten. Bis zu den Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts waren Voten im Zeichen des Liberum Veto nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Polen verschwand auch dadurch für 123 Jahre von der Landkarte.
Nach dem Veto gegen die Kopplung des EU-Budgets an einen Rechtsstaatsmechanismus halten sich Teile der Opposition an das Schreckgespenst: Polen könnte mittelfristig von der Landkarte der 27 EU-Mitglieder verschwinden. Der Begriff „Polexit“ macht die Runde, obwohl jüngste Umfragen zeigen, dass deutlich mehr als 80 Prozent die EU-Präsenz des Landes gutheißen, darunter viele Anhänger der Regierung. Zugleich sind 44 Prozent aller Befragten gegen das Junktim, EU-Finanzen an rechtsstaatliche Prinzipien zu binden. Mehr als 55 Prozent fürchten, das Veto werde den Geldstrom aus Brüssel unterbrechen. Die aktuelle Stimmung ist das eine – der Machtkampf innerhalb der Regierung und deren Stimmungsmache gegen die EU das andere. Premier Morawiecki nennt den Rechtsstaatsmechanismus einen „Propagandaknüppel der EU“, noch eine der moderateren Aussagen aus dem Lager der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS). Was erklärbar ist, faktisch stellt Polen bereits heute keinen mit Deutschland vergleichbaren Rechtsstaat mehr dar, dem an Gewaltenteilung liegt.
Urteile auf Bestellung
Das Verfassungsgericht fällt – wie jüngst mit dem verschärften Abtreibungsgesetz – Urteile auf Bestellung. Die Regierung billigt nur noch Entscheidungen von Gerichten niederer und höchster Instanzen, die ihr passen, und ignoriert alle anderen. Zbigniew Ziobro, Justizminister und Rechtsaußen-Politiker, fordert „Veto oder Tod“. Kein Wunder, er hätte einen Rechtsstaatsmechanismus besonders zu fürchten, ist er doch in Personalunion Minister und Generalstaatsanwalt. Diese Machtfülle lässt ihn Gerichtspräsidien mit genehmen Leuten besetzen, zugleich befördert und behindert er Strafverfolger aller juristischen Ebenen nach Gutdünken. Als letzte Bastion einer unabhängigen Rechtsprechung wird gerade das Oberste Gericht „übernommen“ – durch eine dort von der PiS eingerichteten Disziplinarkammer. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat bereits im April entschieden, diese Kammer müsse ihre Arbeit vorerst aussetzen, doch stört das die Disziplinarrichter nicht weiter. Insofern verwundert es nicht, dass sich Warschau vehement gegen den geplanten Rechtsstaatsmechanismus stellt. Allerdings würde ein drohender Entzug von EU-Mitteln umgehend auf die ökonomische Situation durchschlagen und die zuletzt deutlich gesunkenen Zustimmungsraten der PiS weiter drücken. Gäbe es einen Kompromiss, bei dem Brüssel und Berlin den Regierungen in Warschau und Budapest entgegenkämen, würde das der PiS die Anhängerschaft sichern und zeigen, dass riskantes Ringen mit den Großen der EU, allen voran Deutschland, auf Augenhöhe möglich ist. Ein sozialpsychologisch nicht zu unterschätzendes Argument in einem Land, in dem sich nicht wenige als „Kolonie“ Deutschlands fühlen.
Dennoch bleibt das Veto aus polnischer Sicht ein gewagtes Spiel. Nicht nur die Sorge um den Erhalt von Souveränität ist der Grund für die harte Haltung Morawieckis und die seines wankenden Mentors, Vizepremier Jarosław Kaczyński, gegenüber Brüssel. Ein anderer resultiert aus dem Machtkampf innerhalb der vereinten Rechten, bestehend unter anderem aus zwei kleineren Parteien, ohne die es keine PiS-Mehrheit gäbe. Einer davon – sie heißt Solidarna Polska – steht Justizminister Ziobro vor, der gerade nach den Sternen greifen will – koste es, was es wolle. Ziobro scheint mittelfristig auf einen Zerfall der PiS zu rechnen und das Erbe Kaczyńskis antreten zu wollen. Also treibt er Morawiecki vor sich her. Spekuliert wird bereits über ein Zusammengehen von Ziobros Gruppierung mit der rechten Konfederacja, die als Opposition ebenfalls im Sejm sitzt.
Morawiecki zu attackieren, das sei für Ziobro „eine Investition in die Zukunft“, wie die Publizistin Anna Dąbrowska im linksliberalen Magazin Polityka schreibt. Morawiecki solle es keineswegs gelingen, die PiS aus der Krise zu führen und die Popularität der Partei zu erhalten. „Es muss ein Zusammenbruch sein, und dann käme Ziobro als neuer, orthodoxer Messias und würde sich auf dem rechten Trümmerberg etablieren, unter dem Banner einer Rückkehr zu nationalkatholischen Quellen.“
Unabhängig davon, ob es zu einem Kompromiss mit Brüssel kommt oder das Veto weiter Bestand hat, zeichnet sich ab, dass die Rechtsaußen in Polen von diesem Konflikt profitieren. Das ist keine gute Nachricht auf dieser oder jener Seite der Oder.
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