Eine notwendige Irritation

Gender Warum der Sieg von Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest so wichtig ist
Ausgabe 20/2014

Was ist da eigentlich am vergangenen Samstag in Kopenhagen passiert? Ein Mann in Frauenkleidern oder vielleicht doch eher eine Frau mit Bart hat ein Lied über eine Wiedergeburt gesungen – und anschließend eine Abstimmung für sich entschieden. Sicher, der Eurovision Song Contest hat als europäische Bühne für Selbst- und Fremdzuschreibungen eine lange Tradition, aber seit der Travestiekünstler Conchita Wurst den Wettbewerb für Österreich gewann, läuft die Interpretationsmaschine besonders heiß.

Da sind jene, die die bärtige Siegerin als eindeutigen Gruß des liberalen Europas an Russland und seine homophoben Gesetze sehen. Bestärkt durch Wursts Reaktion auf die Frage, ob sie eine Nachricht an Wladimir Putin habe. Ihre Antwort: "Wir sind nicht zu stoppen."

Und dann sind da jene, die die Unterschiede zwischen Jury- und Telefonvoting auseinanderklamüsern, um zu zeigen: Es gab bei der Entscheidung keine Kluft zwischen den Menschen in West- und Osteuropa. In allen Ländern, außer in Estland, wurde Wurst von den Zuschauern mindestens unter die ersten Fünf gewählt; in Russland wäre sie nach dem Willen des Publikums sogar auf dem dritten Platz gelandet. Die Differenz zwischen Jury-und Telefonvoting war hingegen in Deutschland besonders groß. Während sie hierzulande das Zuschauervotum gewann, wollte ihr die Jury überhaupt keine Punkte geben.

Es gibt aber auch Stimmen, die jetzt daran erinnern, dass Wurst vergangenes Jahr in der RTL-Dokusoap Wild Girls mitwirkte, in der B-Promi-Kandidatinnen in der Wüste Namibias auf den Stamm der Himba trafen – eine Sendung, die übelste rassistische Klischees bediente und deren weitere Ausstrahlung die Himba zu verhindern versuchten. Kann Conchita Wursts ESC-Sieg damit überhaupt noch ein eindeutiges Signal für Toleranz und Respekt sein?

Kurz gesagt: Ja, das kann er trotzdem. Denn die Macht der Zeichen, die von einer umjubelten Diva mit Goldkleid und Bart ausgehen, ist größer als die Person selbst. Die Kunstfigur Wurst, geschaffenen von dem österreichischen Homosexuellen Tom Neuwirth, der selbst zahlreiche Diskriminierungserfahrungen gemacht hat, mag ihre Fehler und Beschränkheiten haben – eine Wirkung hinterlässt sie trotzdem.

Zum einen nehmen viele Homosexuelle und Transgender diesen Sieg als Anerkennung ihrer Lebensweise wahr. Im Netz finden sich zahlreiche Kommentare und Blogs, in denen sie von einem befreienden Gefühl und Gänsehaut berichten. Selbst wenn man da sicher den Überschwang des Moments abziehen muss, unter dem Strich bleibt bei vielen doch das Gefühl, dass die Gesellschaft sich in die richtige Richtung bewegt. Hin zu mehr Offenheit.

Zum anderen sorgt die große Zustimmung bei jenen für eine Irritation, die sich nach den überschaubaren Verhältnissen klassischer Geschlechterbilder zurücksehnen. Da muss man gar nicht bis nach Moskau blicken. So kommentierte etwa Bela Anda in der Bild-Zeitung, dass er mit der ESC-Siegerin nichts anfangen könne. Nein, ein Bart im Gesicht einer Frau störe nicht nur sein ästhetische Empfinden, sondern auch sein "Rollenverständnis von Mann und Frau". Es sei einfach nicht alles gleich.

Man wünscht der Bild sofort noch ganz viele Irritationen dieser Art, die ihr Weltbild etwas auflockern könnten, aber klar ist auch, dass sie mit dieser Meinung hierzulande keineswegs allein steht. Gerade das macht den Erfolg von Conchita Wurst so wertvoll.

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